
Obwohl Liguster und Lori kopfüber in den Gurten auf Baldis Rücken hingen und vom Wind getragen in unbekannte Fernen reisten, schliefen sie irgendwann ein. Unterdessen hielt Baldi unverdrossen an
ihrem Faden fest und schaukelte mit ihren Passagieren auf dem Rücken in immer größere Höhen. Weiter und weiter zog es die drei Reisegefährten in einer rasenden Geschwindigkeit durch den Himmel,
während sich die Landschaft unter ihnen allmählich veränderte. Im weißen Licht des Mondlichts flachten die sandigen Hügel der Dünenheide zusehends ab, nur noch hier und da sprenkelten Tupfen von
dunkelroter Heide den Boden. Grasflächen breiteten sich aus. Kräftige Böen trieben sie energisch weiter durch die Nacht nach Nordwesten, näher hin zum Tag und zum ersten Ziel ihrer Reise. Im
frühen Grau des Morgens flogen sie über grüne Wiesen hinweg, aus denen vereinzelt Gruppen von weißrindigen Birken und Pappeln ragten. Dann wagte sich am Horizont ein zaghafter Sonnenstrahl
hervor, tastete über den Boden, Gräser und Bäume bis er auf etwas traf, das das Licht in gleißendem Funkeln zurückwarf: Wasser.
Als Liguster schließlich wieder erwachte, war Baldi gerade dabei an einem langen Schilfrohr hinab zu krabbeln. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und aus allen Richtungen summte, brummte,
quakte und zwitscherte es. Liguster stieg der strenge Sellerieduft von Wasserschierling in die Nase und feuchte Luft legte sich auf seine Haut. Konnte es etwa sein, dass der Wind sie direkt zum
Rosensee getragen hatte? Elaū keleñadí, dann war die Große Mutter wirklich mit ihnen. Liguster richtete sich in seinem Sitz auf und schaute sich wachsam um, während er die Luft tief in die Lungen
sog. Ja, hier roch es unbestreitbar nach den Duftproben, die Aruna ihm gezeigt hatte, auch wenn noch viele Gerüche mehr in der Luft lagen. Da war ein Hauch von Fäulnis, wie sie Liguster aus den
feuchtesten Gebieten im Zwingelforst kannte. Nasse Erde, Holz, Algen und Moos erschienen vor seinem inneren Auge. Aber er roch auch einen zarten lieblichen Duft. Ob das die weiß-rosafarbenen
Blumenfelder waren, die dort in der Ferne auf und nieder schwankten? Liguster kniff seine Augen zusammen und schaute genauer hin. Das mussten diese Seerosen sein und das Schwanken kam daher, dass
die runden Blätter und die üppigen Blüten auf einer Wasserfläche lagen. Plötzlich sah Liguster nur noch grün vor sich. Ein riesiges Schilfblatt versperrte ihm die Sicht. Im gleichen Moment hielt
Baldi abrupt inne und der junge Wicht spürte ihre Irritation. Er konzentrierte sich kurz auf seine Spinnenfreundin und wandte daraufhin den Blick nach unten. Wasser. Überall nur Wasser. Wie
sollten sie hier weiterkommen, ohne sich nasse Füße zu holen? Liguster schüttelte sich. Trotz Quanjos unerbittlichem Training konnte er dem feuchten Element nach wie vor nichts abgewinnen. Er
legte seine Hand auf Baldis Kopf und bat sie, wieder nach oben zu krabbeln. Erst einmal brauchten sie einen Überblick. Sofort machte Baldi kehrt. Doch kaum hatte die Spinne das Schilfrohr zur
Hälfte wieder erklommen, näherte sich ein bedrohliches Brummen. Bevor sie überhaupt wussten, wie ihnen geschah, raste ein riesiges Tier an ihnen vorbei, sicher mehr als zwanzig Mal so groß wie
Baldi. Funkelnd wie ein blau-grünes Juwel mit langem, schmalem Körper und vier großen durchsichtigen Flügeln. Das Schilfrohr schwankte und wieder rauschte das Wesen an ihnen vorbei, änderte
ruckartig die Richtung, blieb kurz in der Luft stehen, wendete und schoss erneut auf sie zu. Ligusters Herz schlug bis zum Hals und von Baldi strömte eine Welle der Panik auf ihn zu. Wir müssen
uns verstecken, dachte er und ließ seinen Blick hektisch von links nach rechts und von oben nach unten schweifen. Aber wo sollten sie hin? Nun hielt das fliegende Insekt unmittelbar vor ihnen in
der Luft. Die Flügel schwirrten so schnell, dass man sie kaum erkennen konnte und obwohl der schlanke glitzernde Körper wunderschön aussah, ging eine beängstigende, räuberische Ausstrahlung von
dem Tier aus. Für einen Moment fürchtete Liguster ernsthaft um sein Leben und um das seiner Freunde. Doch dann verlor er sich in den großen schillernden Facettenaugen, die aus Tausenden
Einzelaugen bestanden und vergaß alle Angst. Tiefe Ruhe breitete sich in ihm aus, in dem schließlich ein Funken purer Freude aufglühte und wuchs und wuchs. Das Tier nahm Verbindung zu ihm auf und
er spürte deutlich, dass es ihn nicht mit Fressgier, sondern mit Neugier und Wohlgefallen betrachtete. Liguster lächelte und musterte den beeindruckenden Flugkünstler aufmerksam. Er erkannte ihn
wieder, von den Blattrollen in der Bibliothek. Es war eine Wasserjungfer, eine Libelle und bei der Größe und dem blau-grün-gelb schillernden Panzer eine Mosaikjungfer. Gerade wollte er seine Hand
nach ihr ausstrecken, da schoss eine Stechmücke an ihnen vorbei. Liguster spürte einen heftigen Impuls von Hunger und Gier aufflammen und zuckte erschreckt zusammen. Schneller als ein
Wimpernschlag brach die Libelle die Verbindung zu Liguster ab und nahm die Verfolgung auf. Weg war sie.
Liguster schüttelte sich kurz, atmete einmal tief durch und wandte sich dann Baldi zu, die noch immer in Schockstarre verharrte. Beruhigend strich er über den harten Panzer ihres Kopfes und bat
sie, oben am Schilfrohr ein Versteck aus Spinnenfäden zu weben, aus dem heraus sie sich orientieren und einen Plan schmieden könnten.
Lori schlief noch immer, als sie oben angekommen waren. Baldi war auf ein langes Schilfblatt geklettert, das sich an der Spitze umbog und so am Scheitelpunkt einen ebenen Platz bot. Direkt
darüber bog sich ein zweites Blatt, sodass sie vor Blicken gut geschützt waren. Liguster drehte sich zu seiner Reisegefährtin um und spürte Sorge in sich aufsteigen. Warum schlief Lori immer
noch? War sie vielleicht verletzt und bewusstlos? Oder war sie – beim großen Mutterbaum, das ... das durfte nicht sein – vom Moderkäfer oder beim ruckartigen Aufstieg in die Luft ins
Zwischenreich katapultiert worden?
Mit fliegenden Fingern löste Liguster den Haltegurt und wandte sich Lori zu. Baldi schien seine Aufregung zu spüren und hielt still, als wäre sie zu einem Teil des Schilfblatts erstarrt.
»Lori! Lori, wach auf! Was ist mit dir?« Ängstlich strich der junge Zwingelwicht der leblosen Lori über den Arm. Erleichtert stellte er dabei fest, dass ihre Haut warm war. Auch ihr Brustkorb hob
und senkte sich. Sie atmete also. Aber warum wachte sie nicht auf? Vorsichtig befreite Liguster sie von dem Haltegurt und rüttelte sie dann sanft an der Schulter. »Wach auf, Lori, komm schon. Wir
sind am Rosensee angekommen.« Doch Lori rührte sich noch immer nicht. Ratlos starrte Liguster seine Reisegefährtin eine Weile an. Dann drangen die lauten Geräusche der Umgebung wieder in sein
Bewusstsein, das Summen, Plätschern, Rascheln und Trällern, das sich so ganz anders anhörte als die Laute der Dünenheide oder des Zwingelforstes. Seine Gefährten und er waren fremd hier.
Eindringlinge, wenn man so wollte, auf einer geheimen Mission. Sie mussten sich dringend verstecken und erst einmal einen Überblick gewinnen. Erneut rüttelte Liguster an Loris Schulter, etwas
energischer diesmal. Wieder keine Reaktion. Oder hatte sie eben kurz die Stirn gerunzelt? Liguster seufzte. Baldi musste ihnen jetzt dringend einen sicheren Unterschlupf weben und dazu musste
Lori von ihrem Rücken runter. Eigentlich hatte Liguster sich fest vorgenommen, Lori nicht noch einmal auf seinen Armen zu tragen. Er wollte lieber eine gesunde Distanz halten, so wie er es schon
sein ganzes Leben im Umgang mit anderen Wichten pflegte. Aber nun blieb ihm wohl nichts Anderes übrig. Nach einem kurzen Zögern lud er sich ihren schmalen Körper entschlossen auf die Arme und
drückte ihn beim Sprung von Baldis Rücken fest an sich. Dabei hüpfte sein Herz schnell und fest gegen sein Brustkorb. Aber das lag wohl nur an der Bewegung und dieser ungewohnten Nähe, die zu ihm
einfach nicht passte. Er legte Lori am Boden ab, schob ihr sorgfältig ein weiches Tuch unter den Kopf und strich ihr zaghaft einige ihrer leuchtend gelben, honigduftenden Haarsträhnen aus dem
Gesicht. Als Baldi ihn schließlich nach einer Weile fragend anstupste, schoss der junge Wicht erschrocken in die Höhe und stolperte ein paar Schritte zur Seite. Dann wandte er sich räuspernd
Baldi zu, konzentrierte sich und bat sie wortlos darum, ihnen eine Schutzhöhle zu weben. Sofort machte sich die Baldachinspinne an die Arbeit und flitzte hin und her und um sie herum. Im
Handumdrehen entstand ein dichtes Netz, dem Baldi durch geschickt platzierte Haltefäden die grobe Form einer Kuppel gab.
Kaum war Baldi fertig, hatte sich von Liguster das Reitgeschirr abnehmen lassen und sich aufgemacht, ein Beutefangnetz zu spinnen, regte sich Lori. Erleichtert kniete sich Liguster neben sie.
»Hey Lori, geht es dir gut? Wir sind am Rosensee angekommen. Aber du hast die ganze Zeit geschlafen oder warst bewusstlos. Ich weiß es nicht so genau. Jedenfalls sind wir da. Habe ich das schon
erwähnt? Die Große Mutter hat uns bis zum Rosensee geweht. Und stell dir vor: Ich habe sogar eine Wasserjungfer gesehen. Erinnerst du dich? Wir haben in der Bibliothek doch etwas über sie
gelesen. Aber jetzt sag doch endlich mal, wie es dir geht. Ist bei dir alles in Ordnung? Warum bist du nicht aufgewacht? Bist du etwa verletzt?«
»Beim heiligen Heidehügel, Li! Du schnatterst ja wie ein ganzer Zug Gänse auf der Reise in den Süden. Lass mich doch erst einmal aufwachen.«
Liguster schwieg peinlich berührt, während Lori sich ausgiebig streckte und dann neugierig umsah.
»Du sagst, wir sind schon am Rosensee angekommen? Und einer Wasserjungfer begegnet? Und ich habe das alles verschlafen?« Lori lachte hell auf, woraufhin Liguster sein Gesicht mürrisch
verzog.
»Das ist nicht lustig«, sagte er düster. »Ich dachte, dir ist etwas passiert.«
»Nein, nein«, beeilte sich Lori, mit einem beschwichtigenden Lächeln zu erklären, »Mir geht es gut. Ich habe mich wohl nur ein bisschen zu sehr aufgeregt. Weißt du, Li, in meiner Familie gibt es
die Besonderheit bei allergrößter Aufregung einfach einzuschlafen und dann erstmal nicht so schnell wieder aufzuwachen. Da ich bisher noch nie in besonders großer Aufregung war – du weißt ja wie
langweilig das Leben als fünfte Regententochter ist – ist mir das noch nie passiert. Ich dachte schon, ich bin in Wahrheit ein Findelwicht, den jemand einfach irgendwo ausgesetzt hat und den ...
oh.« Verlegen schaut Lori Liguster an. »Entschuldige, ich wollte dich nicht ...«
Liguster winkte ab. »Schon gut«, sagte er und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Dir geht es also wirklich gut?«
Lori nickte fröhlich und verzog dann stöhnend das Gesicht. »Nur Hunger habe ich wie ein Troll.«
Kaum hatte Lori es ausgesprochen, spürte Liguster auch in seinem Magen ein hungriges Grummeln wüten. Schnell holte er ihre Vorratstaschen heran und wühlte darin herum.
»Viel haben wir nicht mehr«, sagte er seufzend und zog nacheinander eine fast leere Samenkapsel mit Honig, eine getrocknete Walderdbeere und einige Kugeln eines ziemlich klebrigen, aber
nahrhaften Etwas heraus, das die Heidelinge aus gestampften Körnern, Samen und süßen Pflanzenfasern herstellten und Brosia nannten. Als Liguster die Kugeln hervorzog, machte Lori leichte
Würggeräusche und schnitt eine Grimasse. »Brosia! Ich kann das Zeug echt nicht mehr sehen.« Doch dann zuckte sie mit den Schultern und grinste. »Ach, was solls. Gib her. Ich bin so hungrig, ich
würde jetzt auch Steine essen.«
Nachdem sie sich so gut wie möglich satt gegessen hatten, schaute sich Lori neugierig um und rieb sich unternehmungslustig die Hände.
»Hast du Weselin schon entdeckt, Li? Oder machen wir uns jetzt zu einer Erkundungstour auf? Ich bin bereit.«
»Ich dachte, wir gehen es etwas vorsichtiger an und verschaffen uns von hier aus erst einmal eine Übersicht«, sagte Liguster.
»Ist mir auch recht«, antwortete Lori, sprang auf und holte sich ein speziell behandeltes Blatt und ihren Wasserschlauch. Dann rollte sie das Blatt zusammen, wickelte den daran befestigten
Pflanzenfaden drumherum und lies vorsichtig einen Wassertropfen auf die vordere Öffnung perlen. Das wiederholte sie mit einem weiteren Blatt und streckte es Liguster lächelnd entgegen.
»Bereit«, sagte sie und sah Liguster dabei so begeistert an, dass auch in ihm die Abenteuerlust erwachte. Eilig sprang er auf und trat mit ihr an das Netz, in dem Baldi in Augenhöhe zahlreiche
unregelmäßig große Lücken ins Netz gewoben hatte. Nacheinander sahen sie durch sie mit ihren Weitsichtrollen hindurch, bis sie fast einmal im Kreis herum die ganze Umgebung abgesucht hatten.
Plötzlich gab Lori ein kleinen Jubellaut von sich.
»Li, ich glaub, ich hab’s gefunden!«
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