Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

 

Intensive Auseinandersetzung mit dem Leben, dem 2. Weltkrieg, mit Andersartigkeit und Funkwellen in einer wortgewaltigen, sinnlich-poetischen Sprache.

 

 

 


 

Anthony Doerr erhielt für diesen Roman den Pulitzer-Preis für Literatur, stand auf Platz 1 der Bestsellerliste der New York Times und bekam unzählige andere Preise. Was für ein Erfolg! Leser, die um Hypes generell einen großen Bogen machen, sollten sich bei diesem Buch eine Ausnahme gönnen. Weil das Buch besonders ist. Weil es wortgewaltig ist und weil es den Hype um sich selbst einer ganz und gar unpopulär geschriebenen Geschichte verdankt.

 

„Alles Licht, das wir nicht sehen“ ist ein Buch über die Schrecken des zweiten Weltkriegs, über Außenseiter, Gewalt, Verrohung und die Poesie des Lebens. Es erzählt die Geschichten zweier Kinder, die während des Krieges erwachsen werden. Den technikbegabten Waisenjungen Werner verschlägt es zur Napola. Als Albino entspricht er nicht gerade dem Bild der Herrenrasse, doch das ist angesichts seines Nutzens für die deutschen Interessen zweitrangig. Werner hilft dort bei der Entwicklung eines Peilsenders, mit dem sich die Funksender von Widerstand-Bewegungen aufspüren lassen. Trotz seiner gerade Mal sechzehn Jahre wird er dann in eine Wehrmachtseinheit versetzt, die genau das tut, jeden aufgespürten Widerständler ohne langes Federlesen ermordet und die Sendestation vernichtet. Dabei durchlebt der schmächtige, kluge, empfindsame Junge alle Untiefen des nationalsozialistischen Ausbildungs- und Wehrmachtssystems. Über all seinen Erlebnissen schwebt die Frage seiner jüngeren Schwester ‚Ist es richtig, etwas zu tun, nur weil alle anderen es auch tun?‘

Im Wechsel mit Werners Geschichte wird die von Marie-Laure erzählt. Das blinde Mädchen lebt mit ihrem Vater in Paris. Einen Großteil ihrer Zeit verbringt sie mit ihm an dessen Arbeitsplatz im nationalen Naturkundemuseum, zwischen Muscheln, Schnecken und Fossilien. Sie liest Jules Vernes in Blindenschrift und erkundet die Welt mit all den Sinnen, die nach dem Verlust des Augenlichts noch bleiben. Als die deutschen Truppen auf Paris zumarschieren, fliehen Marie-Laure und ihr Vater in das Küstenstädtchen Saint Malo zu dem im ersten Weltkrieg schwer traumatisierten Onkel Etienne. Der hat einen Funksender auf dem Dachboden, mit dem er einst philosophisch-naturwissenschaftliche Sendungen in den Äther schickte. Sie erreichten damals über ein selbst gebasteltes Radio auch Werner im weit entfernten Ruhrgebiet, ließen den kleinen Jungen träumen und weckten seinen rastlosen Forscherdrang. Später werden über diesen Funksender codierte Nachrichten an den Widerstand gesendet und Werner kommt ihm mit seiner Einheit immer näher und näher. Gleichzeitig hat Marie-Laures Vater den größten Schatz des Museums bei sich, um ihn vor den Nazis zu verstecken. Doch die sind ihm bereits auf der Spur.

 

Für Deutsche kann es mitunter etwas schwierig sein, wenn ein Amerikaner vom zweiten Weltkrieg erzählt. Auch hier kommt das Deutsche an sich nicht gut weg. Ein wenig fehlt die Differenzierung in dieser Geschichte, in der unter den Deutschen nur andersartige Nerds liebenswerte Züge erhalten. Stattdessen schildert der Erzähler wahlweise dämonische oder moralisch schwache Deutsche. Doch diesen Aspekt, den man durchaus als Mangel der Geschichte bezeichnen kann, darf man als Hintergrundkulisse auch vernachlässigen. Im Mittelpunkt stehen Werner und Marie-Laure mit ihren einzigartigen Blickwinkeln auf die Welt. Dabei macht vor allem Marie-Laures Blindheit einen sehend. Sie verlockt dazu, die Augen zu schließen, zu riechen, schmecken und zu fühlen. Dass das so ist, verdankt die Erzählung ihrer bemerkenswert intensiven Sprache. Sommerliche Brisen sind hier schwer und grün, Frühlingswinde quecksilbrig. Gerüche werden zu Farben und die natürliche Welt entwickelt ein rauschhaftes Eigenleben, das einen mit sich reißt.

Die Erzählstruktur fordert intellektuell, verschachtelt kurze Kapitel, die mal bei Werner, mal bei Marie-Laure, mal bei dem Schatzjäger der Nazis spielen und unterschiedliche Zeiten durcheinanderwürfelt. So erschließen sich Zusammenhänge nach und nach in einem eigenen Tempo, gestatten ein Abgleichen und ein Nachdenken über die Vorgänge der Geschichte, häufig über einen sinnlich-emotionalen Zugang. Hoffnungen an ein gutes Ende zerplatzen bei der Lektüre schonungslos und lassen den Leser damit einen zentralen Aspekt von Krieg durchleben. Dessen emotionale Auswirkungen enden noch lange nicht damit, dass das offizielle Kriegsende ausgerufen wird. Stimmig schließt die Erzählung daher erst 2014 nach einem Zwischenstopp im Jahr 1974, was genial zeigt, dass das Erlebnis von Krieg bis zum Ende des Lebens nachklingt. Menschen, die diese Erinnerungen in sich tragen, werden abgelöst von den nächsten Generationen und Kindern, die Computerspiele spielen, in denen der tote Held einfach immer wieder von vorne anfangen kann. Von einer Zeit, in der die Luft durchzogen ist von Millionen Funkwellen. „Ist es da so schwer, zu glauben, dass sich auch Seelen über diese Wege bewegen […] Noch hörbar, wenn du nur aufmerksam genug lauschst“?

 

Fazit: „Alles Licht, das wir nicht sehen“ ist emotional, manchmal auch pathetisch, intensives Kopfkino und Erleben mit allen Sinnen. Das gut 500 Seiten starke Buch bringt einen zum Nachdenken, fast aber mehr zum nachhaltigen Fühlen von Tod und Leben, Schrecken und Glück. Mit Literatur, die so etwas kann, sollte man – neben dem sie auszuzeichnen – eines tun: sie lesen.

 

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