Durchatmen und entschleunigen

 

Es ist im Moment der running gag in meinem sozialen Umfeld, jede Verabredung mit dem Bekenntnis zur Entschleunigung zu begründen. Vielleicht ist es auch weniger eine Begründung als eine trotzige Rechtfertigung für den gelegentlichen Rückzug aus dem Gezappel der Moderne: „Jaahaha, das hat einen Sinn, dass ich gerade nichts tue. Das ist keine Faulheit, sondern Entschleunigung! Und damit liege ich ja sowas von im Trend…“ Fragt sich nur, ob auch hinter diesem Trend mal wieder eine fiese, weltumspannende Verschwörung steckt...

Teste dich selbst: Wenn du dieses Video von Anfang bis Ende anschauen kannst, ohne vorzuspulen oder ungeduldig zu werden, bist du ein wahrhaft Entschleunigter (ich hab's nicht geschafft...) YouTube-Tipp: digger hamburg - Entschleunigung (3:12 min).

 

Durchatmen und entschleunigen - Wortopolis Kolumne by Britta Stender
Wortopolis KOUMNE | Entschleunigung | Bldquelle: pixabay.com, azeret33


Eskapismus: die versteckte Gefahr der Entschleunigung

Grundsätzlich ist Entschleunigung als eine Gegenbewegung zur Hektik des Alltags zu verstehen. Es geht darum, durch Langsamkeit bewusster zu erleben und intensiv in der sinnlichen Wahrnehmung zu schwelgen. So weit, so gut. Dabei scheinen die Grenzen zwischen Verlangsamung und Verdrängung jedoch fließend zu sein. Nur zu gern wird Entschleunigung missverstanden als eine Flucht vor der Welt, einem Ausblenden von den realen Problemen der Gegenwart. Das aber ist nicht Entschleunigung, sondern Eskapismus. Und das wiederum macht wenige reich und stellt viele ruhig: zum Beispiel mit den boomenden Zeitschriften, die uns mit ihren hochwertigen Aufmachungen, ihren meditativen Bastelanleitungen und ihren Aussteigerberichten ein Gefühl heiler Welt schenken oder mit TV-Formaten, die dem Menschen gezielt passive Entspannung verschaffen, Emotionen erzeugen und von der Realität ablenken. Willkommen in der Matrix!

 

Aber wer will einem die Eskapismus-Sehnsucht schon verdenken? Denn braucht man zwischendurch nicht auch mal eine Pause von der Realität, um sich noch einen Funken Lebensmut zu bewahren? JA, verdammt! Ich muss nicht ununterbrochen an das Elend überall auf der Welt, soziale Ungerechtigkeiten und manipulative Wirtschaftsmächte denken. In dieser medienüberfluteten Welt gibt es ja eh kaum ein Entkommen vor Nachrichten über neue Terroranschläge, die wahnwitzig menschen- und freiheitsverachtenden Äußerungen eines Donald Trump oder die unfassbaren Vorgänge in der Türkei unter ‚Irrogan‘. Aber darf man diese Pause ausweiten zum egomanen Lebenskonzept der Wellness- und Glückssuche? Tja, das ist die Frage. Cederström und Spicer sprechen vom „Wellness-Syndrom“ (siehe unten) und stellen ebenso wie die Uni Konstanz fest (zum PDF), dass das Interesse am öffentlichen Leben abnimmt. Das mag zunächst dem individuellen Wohlbefinden zuträglich sein. Tatsache ist aber trotzdem, dass es ein Leben nach dem Schweizer Sprichwort „Wenn sich jeder um sich selbst kümmert, ist für alle gesorgt“ den Bösewichten ziemlich leicht macht, ihre perfiden Pläne in die Tat umzusetzen. Das hat sowas von der künstlichen Weltabgeschiedenheit in einem Fahrstuhl. Leise Musik tändelt aus dem Lautsprecher und wir fahren sicher und geschützt in der hermetisch abgeschlossenen Fahrstuhlkabine von Stockwerk zu Stockwerk. Wer weiß, was in dieser Zeit draußen passiert? Ach, das musst du gar nicht wissen. Entspann' dich, lass' es dir gut gehen, kümmere dich gar nicht darum, was ich hier mache... das bekommst du noch früh genug mit, spätestens wenn ich die Weltherrschaft an mich gerissen habe... (Har, har, har).

 

Dreamteam Verdrängung: Glaubenssätze und Fluchtsehnsucht

Besonders doppelbödig ist die weit verbreitete Botschaft, dass für ein glückliches Leben nur die richtige Einstellung vonnöten ist – auch eine Form des Eskapismus. Nicht das System ist schuld, nur deine Einstellung verhindert, dass du reich, glücklich und gesund bist… Ich gebe ja zu: ich selbst bin davon überzeugt, dass Gedanken eine Form der Energie sind, die Dinge in Bewegung setzen kann. Und ich denke auch ganz im Sinne von Jacksons „Man in the mirror“, dass man bei sich selbst anfangen sollte, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen (s. meinen Blog-Artikel: Ein halbvolles Glas Optimismus, bitte…).


ABER die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft vollkommen frei von Verantwortung für die bestehenden Missstände zu sprechen, ist sehr gefährlich. Und nur weil man jeden Morgen brav seine Glaubenssätze vor sich hinmurmelt, ändert man an diesen Missständen noch gar nichts.

 

Was aber kann man tun? Wir sind nicht die 70er-Generation. Unsere Zeit regt nicht in einer Weise auf, die uns auf die Straße treibt. Nein, sie erschlägt uns mit einer abartig hohen Informationsrate (siehe Räume des Alltags unten), ermüdet uns mit zeitfressenden Banalitäten, erschüttert uns mit Schreckensmeldungen und zwingt uns dadurch in einen egoistischen Selbsterhaltungstrieb. Und genau da – meine ich – kann man ansetzen. Die Informationsrate runterfahren, das Bewusstsein über uns, unsere Umgebung und Weltzusammenhänge hochfahren, unseren Blick erweitern (nicht verengen oder verschließen wie beim Eskapismus), eben entschleunigen. Achtet auf euch, genießt das Leben, aber nicht auf der Flucht vor der Welt, sondern in ihr. Dann gilt das, was Feministin und Schriftstellerin Audre Lorde einst sagte: „Selbstsorge ist kein überflüssiger Luxus, es ist Selbsterhaltung, und die ist ein Mittel politischer Kriegsführung.“

 

Frühstücks-Muttis und Slobbies: Qualität vor Quantität

Früher habe ich mich immer gefragt, woher die Frauen, die ich gerne als Frühstücks-Muttis bezeichnet habe, die viele Zeit haben. Gibt’s die irgendwo im Outlet? Ständig waren sie mit anderen Muttis zum Frühstück, zum Kaffee, zur Krabbelgruppe oder was auch immer verabredet. Hatten die nichts zu tun? Keine Arbeit, kein Haushalt, keine irgendwie produktive Tätigkeit? Heute begreife ich es als Teil meiner eigenen Entschleunigungstherapie, mich selbst häufiger zu verabreden um innezuhalten, wenn auch nur auf ein Stündchen. Die Grundlage dafür bildeten zwei zentrale Erkenntnisse:

 

1.   „Zeit lässt sich nicht managen, nur Prioriäten lassen sich managen“. (Zitat von einem Zen-Meister mit dem absolut zen-untypischen Namen Hinnerk Polenski)

 

2.    Die Überzeugung, dass man immerzu arbeiten muss, um ein guter und wertvoller Mensch zu sein, zeigt ähnliche brainwashing-Züge wie die Lehren eines fanatischen Kultes (siehe meinen Blog-Artikel: Die religiöse Botschaft vom ‚frohen Schaffen‘)

 

Natürlich zwingen uns schon die existenziellen Notwendigkeiten ein gewisses Maß an Arbeit auf. Allein die Sicherung der täglichen Nahrungszufuhr hat es je nach den uns umgebenen Voraussetzungen in sich. Davon aber mal abgesehen, verbringen wir doch wirklich viel stressige Zeit damit, Dinge zu tun, die nur noch auf eine sehr, sehr abstrakte Art und Weise etwas mit unseren existenziellen Bedürfnissen zu tun haben. Hemden bügeln und Fenster putzen zum Beispiel oder Versicherungen verkaufen, Mails checken, Werbung machen und Blogs schreiben… (Äh, Moment mal… ich finde meine Blog schon irgendwie existenziell…). Und in dem Versuch, sich in allen Lebensbereichen gleichsam zu optimieren und mit der Schnelligkeit der digitalen Welt mitzuhalten, brennen wir sprichwörtlich aus. Der Tag hat nur 24 Stunden und egal wie schnell und effektiv wir sind, es werden nicht mehr. Das haben die bekennenden Slobbies unter uns unlängst erkannt. Die ‚slow but better working people‘ setzen ihre Prioritäten anders und Langsamkeit ist ihr Mantra. Diese Anti-Hektiker setzen Qualität vor das ständige Mehr, Mehr, Mehr der verführerischen und hochgradig manipulativen Konsumwelt. „Make slow, not fast“, könnte auf ihren Plakaten stehen oder „Lieber mit dem Fahrrad zum Strand als mit der Limousine zur Arbeit“.

 

Achtsamkeit und Handarbeit: praktische Tipps für ein Slow Life

Quasi Hand in Hand mit dem Entschleunigungs-Trend, vielleicht sogar in inniger Umschlingung mit ihm, bestimmt 'Achtsamkeit' die Publikationen rund ums Thema. Achtsamkeit: Kleine Schritte zur Entschleunigung, heißt zum Beispiel ein Artikel vom Spiegel mit konkreten Anwendungsbeispielen. Unzählige Buchtitel versprechen Anleitungen zur Achtsamkeit, um das Leben und den Alltag zu entschleunigen. Es gibt Volkshochschulkurse, Seminare, Coachings mit den Begriffen Entschleunigung und Achtsamkeit im Titel. Ja, die beiden scheinen fest zusammenzugehören.

Achtsamkeit als Methode kennt man historisch aus dem Buddhismus und der Meditation. Im westlichen Kulturkreis kommt sie vor allem aus der Psychotherapie. Dort hat man nämlich erkannt, dass die Fokussierung auf die Gegenwart mit einer sozusagen weitwinkeligen „Panorama-Bewusstheit“ Leiden verringert. Die Stimmung soll sich verbessern, die Lebenszufriedenheit steigern, Emotionen sich besser regulieren lassen. Na, wenn das so ist: her damit! Das Grundprinzip ist ganz einfach. Es geht darum, im Hier und Jetzt zu bleiben und nicht mit den Gedanken schon wieder zehn Schritte weiter zu sein. Dabei sind die Sinne wichtig: hören, schmecken, fühlen, sehen, riechen. Mach' das zwischendurch mal ganz bewusst und schon erlebst du die Relativität der Zeit am eigenen Leib. Schlachtrufe:

  • Singletasking statt Multitasking
  • Erleben statt konsumieren
  • Wahrnehmen statt verdrängen

Dazu gehört dann auch mal die Medien und die technischen Errungenschaften als die großen Beschleuniger unserer Zeit außen vor zu lassen. „Back to the roots“ heißt die Devise. Selber machen, handwerken, handarbeiten, Brot backen – erober' dir das Luxusgut Zeit zurück, indem du dir Zeit nimmst. Und dabei bewahre dir trotz aller Schrecknisse den Willen zur Weltverbesserung. Pflanze einen Apfelbaum, biete deine Hilfe an, liebe deine Kinder. So funktioniert es vielleicht und wir finden aus unserer egomanen Schreckensstarre zurück in ein gemeinschaftliches Weltgestalten. Vielleicht ist das aber auch nur kitschig-ideologisches Geschwafel, wer weiß...

 



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