„Und dann hat die Oma gesagt: Deutschland soll wieder Deutschland werden, weißt du, mit so einer übertriebenen Betonung auf ‘Deutsch‘. Ihre Stimme hat dabei richtig gezittert, als würde sie die Freilassung ihres Kindes aus der Kriegsgefangenschaft fordern, oder so." Antje verdrehte die Augen.
„Wahrscheinlich sieht sie das auch so: Die Heimat in Geiselhaft der ausländischen Invasoren." Inga schnaubte. „Solchen Leuten würde es echt gut bekommen, wenn sie selbst mal auf der Flucht wären und dann auch auf so eine Ablehnung stoßen würden. Mir ist ja schon klar, dass dieser Hass à la Pegida im Prinzip nichts anderes als Angst ist. Aber warum die Leute meinen, überhaupt Angst haben zu müssen, kann ich nicht nachvollziehen. Sollen die das Leben hier doch mal mit dem im Südsüdsudan, in Syrien, Swasiland oder einem anderen unsicheren Land vergleichen. Mehr Sicherheit, Wohlstand und Freiheit als hier geht doch kaum!"
„Tja, je mehr man hat, umso größer ist offensichtlich die Angst, davon etwas abgeben zu müssen oder zu verlieren.“ Inga schüttelte leicht den Kopf, dass ihre kinnlangen, braunen Haare sanft über ihre Wangen strichen und schloss die Hände eng um die heiße Kaffeetasse. „Ich habe auch Angst“, sagte sie. „Aber nicht davor, dass die bösen Muselmänner uns Jobs, Geld und Unschuld rauben, sondern davor, was gerade mit der Welt passiert. Irgendwie läuft das doch alles in die komplett falsche Richtung, findest du nicht? Wenn ich schon das Wort ‚Rechtsruck‘ höre, wird mir ganz anders. Dabei ist der zweite Weltkrieg gerade mal siebzig Jahre her.“
„Ich verstehe es auch nicht“, gab Antje zurück und zupfte nachdenklich am Ende ihres hennaroten Zopfes. „Am liebsten würde ich eine globale Gehirnwäsche durchführen und in alle Köpfe Werte wie Mitgefühl, Offenheit, Großzügigkeit und Friedfertigkeit einpflanzen. Für den ganzen Industriescheiß werden Milliarden in Werbung investiert und zwar so erfolgreich, dass Leute echt denken, Müsliriegel, Fruchtjoghurts und Co. wären pure Gesundheit zum Essen. Aber für Aufklärung, Bildung, Menschlichkeit – für solche Kampagnen sind dann Beträge aus der Portokasse zuständig.“
Inga nickte heftig. „Ja, im Gegenteil wird die Angst ja noch geschürt. Statt Verständnis zu fördern, indem man zum Beispiel mal zeigt, wovor die Leute flüchten, Bilder vom Krieg, von zerstörten Städten, geht es immer nur um kulturelle Differenzen, dunkelhäutige grapschende Männer, die sich in Gruppen zusammenrotten, Terroristen, die Flüchtlingsströme für ihre Ziele ausnutzen …“ Inga presste ihre Lippen fest aufeinander. „Das ist schon fast Propaganda.“
„Angst verkauft sich eben besser als alles andere“, sagte Antje und sah Inga mit schief gelegtem Kopf und frustriertem Gesichtsausdruck an. „Fragt sich nur, was man dagegen tun kann.“
„Warte mal!“ Inga stellte ihren Kaffeebecher so hart auf dem Tisch ab, dass der Kaffee kräftig überschwappte. Das schien sie aber nicht im mindesten zu interessieren. Sie sprang vom Stuhl auf und war mit zwei Schritten beim Küchenradio, um die Laustärke auf Anschlag zu drehen.
… AfD hat ein Online-Portal eingerichtet, bei dem Lehrer gemeldet werden können, die in der Schule mit politischen Äußerungen gegen das Neutralitätsgebot verstoßen. Rechtlich seien die Portale laut Kultusministerkonferenz zulässig. Als Aufruf zur Denunziation bezeichnet die Deutsche Lehrergewerkschaft dagegen das Vorgehen der AfD und verurteilt es scharf …
Inga drehte das Radio wieder leiser. „Hast du das gehört, Antje? Hast du das gehört! Unglaublich. Das ist doch wirklich … Eine Partei richtet Portale ein, bei denen man Leute anschwärzen kann, die sich gegen sie äußern? Das ist wie bei den Nazis, wie bei der Stasi … Das ist wie Weimarer Republik. Mann, Antje, was passiert hier?!“ Ingas Stimme zitterte merklich. „Immer mehr Hass und Gewalt überall. Um Himmels willen, was wird das? Mauern, Stacheldraht, bald rassische Herkunftsnachweise, Deportationen mit unbekanntem Ziel?“
Inga ließ sich zurück auf den Stuhl am Küchentisch sinken und beide Frauen schwiegen entsetzt, während die braune Pfütze auf dem Küchentisch in grausamer Gelassenheit die Farben der bunten Tischdecke in sich ertränkte.
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