„Reiß dich mal zusammen, du Trauerkloß.“ Mit seitlich in die Hüfte gestemmten Armen und schmal zusammengekniffen Augen sah Manja sie an. „Ich finde, du bist echt undankbar für das alles, was du hast. Du siehst gut aus, bist schlau, hast einen tollen Mann, eine süße Tochter, wohnst schön … Und trotzdem bist du nur am Jammern und Meckern.“ Manja schnaubte und fügte etwas leiser hinzu: „Ich wünschte, ich hätte wenigstens eins davon.“
Rita sah müde zu ihr hoch. Jetzt war sie also auch noch undankbar? Sie überlegte kurz. Ja, das war sie wohl. Sie sollte sich schämen. Was war sie nur für ein schlechter Mensch, der nichts zu schätzen wusste. Eine Versagerin, die noch nicht mal für ihren Mann und ihre Tochter dankbar sein konnte. Wie erbärmlich. Die Welt wäre wahrscheinlich besser ohne sie. Ja, das wäre sie wohl. Wie Felsbrocken lagen die Gedanken in ihr und drückten auf ihre Brust, machten sie schwer und zogen sie nach unten. Fast wünschte sie sich, sie wäre der Wolf aus dem Märchen Die sieben Geißlein und vor ihr stände jetzt ein Brunnen, in den sie stürzen könnte. Obwohl, nein, ertrinken war nichts für sie. Luftmangel machte sie panisch. Fallen auch. Also konnte sie auch nirgendwo herunterspringen. Und Messer? Wie es sich wohl anfühlte? Sie sah in Gedanken das große Fleischermesser aus der Küche vor sich und spürte dem Gefühl nach, in Fleisch zu schneiden. Dieses raue, eigentümlich säbelnde Gefühl durch Sehnen, Muskeln und Knorpel zu dringen. Es war beinahe so, als würde sie es gerade tun, die Spitze auf ihr Herz richten und langsam in den Körper drücken, Millimeter um Millimeter. Schmerzhaft und erlösend zur gleichen Zeit.
„Hallo? Noch jemand da?“ Manja schnipste mit ihren Fingern direkt vor ihrer Nase.
Ach ja, die war ja immer noch nicht weg.
„Heute bist du echt seltsam drauf, Rita. Wenn es dir nicht gut geht, dann tu doch was dagegen. Geh an die frische Luft, genieß die Sonne, unternimm etwas mit deiner Tochter. Mach irgendwas Schönes. Sei optimistisch und sieh die Dinge von ihrer guten Seite. Deine Einstellung stimmt einfach nicht.“
Ihre Einstellung? Hatte sie eine Einstellung? Sie wollte einfach nur, dass es vorbei war. Das war alles, was sie wollte. War so etwas eine Einstellung? Selbst wenn Rita das Gefühl gehabt hätte, sich bewegen zu können, hätte sie nicht nach draußen gehen wollen. Wozu? Welchen Sinn hätte das? Als wäre durch ein paar Schritte an der frischen Luft auf einmal alles wieder in Ordnung. Als wäre sie dadurch auf einmal ein anderer Mensch. Jemand, der am Leben sein sollte, der richtig war in dieser Welt. Nicht so wie sie, an der irgendwie alles falsch war. Sie konnte ja nicht mal dankbar für ihr eigenes Kind sein. Was für eine Versager-Mutter sie war. Neulich war sie richtig gemein zu ihrer Tochter gewesen. Eine schreckliche Mutter war sie. Sie wünschte, ihr Kind hätte eine bessere Mutter, eine andere Mutter. Sie könnte es jetzt gleich tun. Es einfach tun und in die Stille gleiten, wo nichts mehr war. Wo sie nicht mehr war. Fast spürte sie in ihren Händen schon das Messer und die Vibrationen, die sich beim Eindringen ins Fleisch von der Schneide bis in ihre Hände fortsetzten.
„Rita! Hörst du mir eigentlich zu? Willst du nicht auch endlich mal was sagen?“ Manja sah sie an und Rita spürte, dass der Blick auf einmal weniger ärgerlich als besorgt war. „Geht es dir nicht gut?“
Geht es dir nicht gut ... hallte es in ihrem Kopf, tausendfach verzerrt durch ein Echo des Spotts und der Verachtung. Was sollte sie auf so eine Frage antworten. So eine blöde Frage. Als würde diese andere Person die Antwort wirklich hören wollen. Als würde es irgendetwas bringen, darauf zu antworten. Als wäre es möglich auszudrücken, wie es ihr ... ging.
„Kann ich irgendwas für dich tun? Vielleicht solltest du einfach mal auf Kur fahren. Ein paar Tage mal ganz für dich. Damit du Ruhe hast und nachdenken kannst. Vielleicht musst du nur mal so richtig ausschlafen.“
Rita sah zu Manja und sah ihren fragend hoffnungsvollen Gesichtsausdruck. Beinahe hätte sie gelacht. Ein paar Tage für sich. Was für eine dumme Idee! Dann würde sie entweder nicht mehr das Bett verlassen oder sofort allem ein Ende machen. Aber sie wollte, dass Manja endlich ging und sie in Ruhe ließ. Was verstand diese fremde Person da vor ihr schon? Was wusste sie von der Finsternis in ihr?
Rita war allein. Wie in einem einsamen Moor mit dunklen Teergruben. Krüppelige, halb verrottete Bäume standen wie erstarrt in der Gegend. Schwarzes Sumpfgras stach aus dem nassen Boden und schluckte jedes Geräusch. Als wäre sie klein und verloren in einer anderen Dimension, einer endlosen Weite in ihrem Kopf und würde durch ihre Augen auf eine fremde Welt dahinter sehen. Als wären ihre Augen irgendwo im Nirgendwo verspiegelte Fenster, durch die sie von ihrer Seite aus sehen konnte. Ihr Körper nicht mehr als die Halterung, der Rahmen für die Scheiben. Sie sah Manjas Gesicht wie aus weiter Ferne. Den Raum, das Sofa, die Kaffeetasse vor sich – es war als würde sie sich selbst hier gar nicht aufhalten.
„Ja, eine Kur ist eine gute Idee“, sagte sie und versuchte diese Halterung zu einem optimistischen Lächeln zu bringen. „Ich werde mich darüber mal informieren. Jetzt muss ich aber noch etwas tun, bevor Kira aus der Schule kommt. Also vielen Dank für deinen Besuch.“
Manja musste weg, damit sie es tun konnte. Sie stand auf. Mühsam. Ein bisschen war sie überrascht, dass sie es geschafft hatte, diesen Körper zu bewegen, der so schwer war wie aus massivem Eisen. Erleichtert sah sie, dass sich auch Manja erhob. Ihren pikierten Blick ignorierte sie. Das war ganz einfach von dort aus, wo sie war. Es wirkte ohnehin alles vollkommen unwirklich dort auf der anderen Seite der Augenfenster. Merkwürdig, dass niemand es ihr ansah. Dass alle sie anschauten und mit ihr redeten als wäre alles normal. Als wäre sie nicht in tiefster Finsternis gefangen und weit, weit fort. Niemand sah sie dort in den Sümpfen. Sie war ganz allein.
Als die Tür sich schloss, spürte Rita ein nervöses Kribbeln in sich. Jetzt könnte sie es tun. Sich erlösen von diesem unerträglichen Gefühl falsch zu sein und alles falsch zu machen, der ganzen Sinnlosigkeit endlich ein Ende setzen und für Ordnung sorgen. Sie gehörte einfach nicht hierher. Sie würde nur einen Fehler korrigieren. Rita ging zur Küche, langsam, als hätte sie eine lange Krankheit hinter sich und wäre noch sehr schwach. Sie holte sich das Messer, das sie schon die ganze Zeit in ihrer Hand gespürt hatte. Einige Minuten lang stand sie da und wog das Messer in der Hand. Dann ging sie mit dem Messer in das kleine Gästebad und sah in den Spiegel, sah ihr blasses, müdes Gesicht, das strähnige Haar. Was war sie bloß hässlich. Mit gerunzelter Stirn sah sie sich an, hob das Messer und setzte es direkt über dem Herz auf ihre Brust. Die Spitze stach schmerzhaft dumpf in ihre Haut und sie musterte das Bild. Prüfend sah sie genauer hin, versuchte durch die Augen in die Welt der Teersümpfe zu sehen, sich selbst dort irgendwo im schwarzen Moor zu entdecken. Nichts. Rita sah nur eine blasse Frau mit dunklen Augenringen und halblangen blonden Haaren, die dringend gewaschen werden mussten. Ihr Herz schlug schnell als sie sich einen Augenblick lang der Vorstellung hingab, jetzt das Messer in ihre Brust zu stoßen. Es fühlte sich an wie die Lösung für alles. Erlösung. Dann überlegte sie, wie es sich anfühlen würde, zu sterben, wie das Blut aus ihr herauslaufen und sie immer schwächer werden würde. Sie sah sich zusammengesunken auf dem Boden neben der Toilette hocken, in einem See aus dunkelroter Farbe. Tief atmete sie aus. Frieden. Rita sah sich selbst mit kalten Augen.
Und dann sah sie ihre Tochter vor der Tür stehen. Kira klingelte und niemand machte auf. Es war kalt draußen. Kira hatte keinen Schlüssel. Sie würde dort stehen und nicht begreifen, warum ihre Mutter nicht aufmachte. Wahrscheinlich hatte sie Hunger. Wie lange würde sie dort stehen bleiben? Sie hatte kein Handy, mit dem sie ihre Oma anrufen könnte. Sie würde dort stehen und keine Ahnung haben, was sie tun sollte. Vielleicht würde sie irgendwann zu den Nachbarn gehen. Und wenn die nicht da waren? Es war so kalt draußen. Minusgrade. Kira würde schrecklich frieren. Und dann? Würde Kira vor ihrer eigenen Haustür erfrieren? Würde sie Hilfe finden und ihren Papa anrufen? Würde der dann kommen und aufschließen und sie dann dort liegen sehen? Würde Kira sie so sehen? Was würde aus ihr werden mit so einem Erlebnis? Was würde aus Jannik werden? Würde er klarkommen?
Mutlos ließ Rita das Messer sinken. Sie würde es nicht tun. Sie wünschte, sie könnte es tun. Aber das konnte sie nicht. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Tochter vor der Tür erfror. Es war nichts geregelt. Sie konnte nicht einfach so gehen, ohne dass etwas geregelt war. Jemand musste Kira abholen, jemand musste sich um ihre Familie kümmern. Rita sah in das müde Gesicht, schloss kurz die Augen und sah sich dann erneut an. Sie musste das sein, die sich um Kira und Jannik kümmerte. Sie hatte die Verantwortung.
Mühsam und qualvoll zog sie ihre Arme aus den Teersümpfen und steckte sie in diese kaputte Hülle wie in lange Handschuhe. Ihre Beine folgten, ihr Bauch und ihre Brust und schließlich presste sie ihr Gesicht hinein und steckte jetzt wieder komplett in der Gestalt. Sie musste etwas tun. Zuerst duschen. Und dann? Was hatte Manja gesagt? Genau, mit ihrer Tochter etwas unternehmen. Sie musste auch noch Wäsche waschen und staubsaugen, einkaufen und sie sollte einen Krisen-Termin bei ihrer Therapeutin machen. In Bewegung bleiben. Im Jetzt bleiben. Kleine Schritte machen, sich darauf konzentrieren und nicht abdriften, nicht aufgeben. Schlafen, Essen, Aufgaben erledigen, eine halbe Stunde an der frischen Luft bewegen.
Rita sah sich an. „Bleib hier und hör auf dich da reinzusteigern. Schluss mit deinem Bad in den Sümpfen“, sagte sie. Dann wusch sie sich die Hände mit der Lavendelseife, die ihr Jannik von seiner letzten Geschäftsreise mitgebracht hatte, roch kurz an ihren Händen, bevor sie sie sorgfältig abtrocknete, atmete nochmal tief ein und öffnete mit dem Ausatmen die Tür für den nächsten Schritt.
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