EINSAM 1: Herr von Spitzli und die Schmetterlinge

Wortopolis Kurzgeschichte by Britta Stender
© Britta Stender / Wortopolis Kurzgeschichten

Hoch am tiefdunklen Nachthimmel steht der Mond. Groß und voll. Sein fahles, blauweißes Licht drängt durch das kleine Dachfenster und überzieht die Wände und altmodischen Möbel mit einem fremden kalten Schein. Langsam wandert das Mondlicht durch das Zimmer, tastet sich Stück für Stück zu einem schmalen Bett unter der Schräge, berührt die hoch aufgetürmte Bettdecke, unter der ein langer, dürrer Körper liegt. Die kleinen Augen in dem hageren Gesicht starren über eine große Nase hinweg an die Decke. Ohne wirklich hinzuschauen, fixieren sie dort einen Punkt, während der Sekundenzeiger der Uhr unermüdlich seine Runden dreht, während das weiße Licht des Mondes unverdrossen weiterwandert.

 

Als die Konsolenuhr aus dem Nebenzimmer leise zwei Mal schlägt, seufzt der lange Mann und arbeitet sich keuchend unter seinem dicken Federbett hervor. Einen Augenblick lang sitzt er auf der Bettkante, mit hängenden Schultern, die Hände schlaff neben sich auf dem Bett. Seine nackten Füße tasten nach weichen Pantoffeln, seine Hand greift nach einem dicken Morgenmantel am Fußende des Bettes. Dann nimmt er eine Brille mit kleinen runden Gläsern vom Nachttisch und setzt sie umständlich auf seine Nase. Langsam tappt er in die Küche seiner Wohnung, füllt Wasser in einen alten Teekessel und setzt ihn auf die Herdplatte. Wie die meisten seiner Einrichtungsgegenstände ist der Kessel ein Erbstück seiner Eltern. Kein Computer, kein mp3-Player, nicht einmal ein Fernseher ist in der Wohnung zu finden. Er ist nicht wie sein Nachbar von Gegenüber, dieser verschreckte junge Mann, Jan Soundso, der nur vor dem Computer sitzt. Alexander von Spitzli verweigert sich dem digitalen Zeitalter, vor allem diesen 'sozialen Netzwerken', von denen er immer wieder in der Zeitung liest. Das Prinzip dieser Computer-Freundschaften irritiert ihn. Ist so etwas echt? Außerdem braucht er kein Programm, oder wie immer man so etwas nennt, das ihm sagt, wieviele Freunde er hat. Die ernüchternde Antwort kennt er auch so.

 

Als ein schrilles Pfeifen ertönt, gießt Alexander von Spitzli das sprudelnde Wasser in einen großen Becher und hängt einen Beutel Kräutertee hinein. "Schlaf wohl" steht auf der Packung. Herr von Spitzli nimmt seine Tasse und geht durch den langen Flur seiner verwinkelten Dachwohnung zu einem kleinen Zimmer. Nachdem er das Licht angeschaltet und die Tasse abgesetzt hat, blickt er sich, wie immer, einige Momente andächtig um. Dicht an dicht hängen Schaukästen mit farbenprächtigen Schmetterlingen. Es sieht aus, als würde ein engmaschiges Netz aus Schmetterlingen die Wände überziehen. Jedes eizelne Präparat ist sorgfältig beschriftet mit dem lateinischen wie dem deutschen Namen und dem Fundort. Die Schrift stammt von seinem Urgroßvater Carl von Spitzli. Der hatte Ende des 19. Jahrhunderts als leidenschaftlicher Schmetterlingsforscher Hunderte von Schmetterlingen gefangen, präpariert und fein säuberlich in Schaukästen aufgereiht, zu Gruppen und Familien sortiert. Über 100 Jahre später lässt sein Urenkel diese Ansammlung der Schaukästen auf sich wirken, staunt über die Insekten mit ihrem zur Schau gestellten Farbenprofil, gleichzeitig Aufmerksamkeitsappell und Tarnung.

 

Alexander von Spitzli atmet einige Male tief ein und aus und setzt sich dann an einen Tisch, der die ganze Schmalseite des Zimmers einnimmt. Er umklammert die warme Tasse mit beiden Händen und starrt lange mit leerem Blick an die Wand. Wie so oft versucht er, sich vorzustellen, was seinen Urgroßvater bei der Präparierung und Nadelung der zarten Geschöpfe angetrieben hat. Sah er die Schmetterlinge als Freunde, die er um sich sammelte? Waren sie für ihn Beute? Bedauerte er es, ihnen eine Nadel durch den kleinen Leib zu stoßen? Bereitete es ihm Lust? Alexander von Spitzli seufzt und schlürft vorsichtig einen Schluck Tee. Er hebt seinen Blick zu den Kästen. Ob Schmetterlinge Angst haben können? Ob sie manchmal auch einsam sind, obwohl sie sich so sorgenlos und wunderschön präsentieren? Spüren sie Schmerz? Was bleibt ohne die schönen Flügel überhaupt noch? Nachdenklich senkt Herr von Spitzli seinen Kopf und blickt in seine Tasse. Der Dampf beschlägt seine Brille. Er hört den Sekundenzeiger der Uhr aus dem Flur. Herr von Spitzli trinkt noch einen Schluck und blickt wieder an die Wand. Draußen hört er in weiter Ferne einen Hund bellen, ein Auto fährt auf der Straße vorbei. Die Konsolenuhr schlägt einmal zur halben Stunde. Zwischen dem Klacken des Sekundenzeigers liegen kleine Ewigkeiten der Stille, die ihm eine Gänsehaut bereiten. Herr von Spitzli trinkt noch einen Schluck und beginnt die Beschriftungen der Schmetterlingspräparate zu entziffern. Nach und nach verschwimmt die Schrift vor seinen Augen, das Ticken wird leiser. Sein Kopf sinkt auf die Brust. Er schläft. Er träumt.

 

Alexander läuft über eine blumenübersäte Wiese. In fast schwereloser Leichtigkeit. Sein Bademantel flattert in leuchtenden Farben offen um ihn herum. Mit seinen Pantoffeln an den Füßen springt er hoch in die Luft. Er dreht Piouretten, schlägt Saltos, rudert wild taumelnd mit den Armen. Er schaut sich um, will gemeinsam mit den Schmetterlingen auf der Wiese tanzen, sucht nach anderen, die so sind wie er. Immer verzweifelter wird seine Suche. Auf einmal erscheint er selbst als Riese am Horizont. Auf seinem großen Kopf sitzt ein Safarihut, mit der Hand umklammert er ein überdimensionales Schmetterlingsnetz. Um seine riesigen knochigen Knie baumelt eine kurze beige Hose. Lange Kniestrümpfe bedecken seine Waden. Alexander sieht sich selbst dabei zu wie er näher kommt, sieht die Euphorie des Jägers und Sammlers in seinen Augen. Trotzdem überrascht ihn das herabstürzende Netz, das ihn einfängt. Es wird Schwarz um ihn. Im nächsten Moment hat sich der Raum vollkommen verändert. Alexander liegt auf einer warmen, glatten Fläche. Aus seinem Bauch ragt eine lange dünne Nadel, die ihn an Ort und Stelle hält. Alexander dreht den Kopf und sieht neben sich eine Reihe von wunderschönen Schmetterlingen. Die leblosen Gesichter haben einen fast menschlichen Ausdruck, sehen friedlich aus und irgendwie nett. Und er liegt mitten unter ihnen, wurde eingereiht zwischen diese herrlich aussehenden Wesen, eingebunden in das Netzwerk des Schmetterlingsschaukastens. All die Schmetterlinge um ihn herum, waren auf einmal seine Freunde. Er spürt wie verlegener Stolz seine Wangen rötet. Mühsam greift er nach dem Saum seines Bademantels und breitet ihn um sich aus. Dann streckt er seine Arme mit den weiten Ärmeln seitlich nach oben. Jetzt habe ich auch Flügel, denkt er. Jetzt passt es. Er fühlt sich entspannt und zufrieden. Alexander lächelt, schließt die Augen und atmet alle Luft aus sich heraus.

 

Herr von Spitzli wacht auf und blickt sich irritiert um. Niemand ist da, außer dem Mond, der ihm starr ins Gesicht scheint. Allwissend und diskret. Vor ihm auf dem Tisch steht die leere Tasse, die leblosen Schmetterlinge hängen unverändert an der Wand, sortiert in bunten, prächtigen Reihen. Und Herr von Spitzli sitzt davor, eingehüllt in seinen Bademantel auf dem großen Stuhl an dem gewaltigen Schreibtisch, fühlt sich fast schmerzhaft ausgeschlossen.

Der lange, dünne Mann kneift die Lippen zusammen, blickt den Mond minutenlang feindselig an und geht dann langsam zurück zu seinem Bett.

 


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