8. Kapitel: Erwischt!

Fortsetzungsroman Liguster Zwingelwicht by Lilu S. Kestlinger
Wortopolis Fortsetzungsroman | Erwischt | © Britta Stender

 

„So, so“, sagte da auf einmal eine Stimme, die klang, als würde ein uralter Baum sprechen. „Es ist also so weit.“

Liguster und Lori fuhren herum und sahen eine alte Wichtin im Eingang stehen. Mit beiden Händen stützte sie sich auf einen knorrigen Stab und fixierte sie mit einem stechenden Blick aus ihren unheimlich hellen Augen.

„Aruna“, stotterte Lori. „Wir haben … wir sind …“

„Still!“, unterbrach die Alte Lori mit ihrer rauchigen Stimme drohend. „Ich weiß, was ihr habt und was ihr seid. Darüber werden wir nach dem Fest mit der Regentin sprechen.“

Liguster straffte unwillkürlich den Rücken und hob trotzig sein Kinn. Es war nicht das erste Mal, dass er bei etwas Verbotenem erwischt wurde und wie immer würde er die Strafe aushalten, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Egal, was diese gruselige Alte sich ausdenken würde, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie Malizia in Sachen Bosheit das Wasser reichen konnte. Also erwiderte er ihren Blick mit steinernem Gesichtsausdruck und minutenlang geschah gar nichts, außer dass sie sich schweigend musterten. Er spürte, dass Lori neben ihm immer unruhiger wurde und meinte fast, ihren lauten Herzschlag hören zu können. Doch ihm machte die Situation nichts aus. Er kannte es nicht anders, als in Ungnade gefallen zu sein. Viel mehr als vor diesem ‚Gespräch mit der Regentin‘ graute ihm vor dem, was in der Prophezeiung stand. ‚Goldauge beflüstert‘, ‚auf Bienenpelz fliegt‘ – wer sollte damit anders gemeint sein als er? Und wieso, vertrollt nochmal, stand irgendetwas über ihn auf einer uralten Schriftrolle und das auch noch an einem Ort, an dem er nie zuvor gewesen war? Er würde die Strafe für das unerlaubte Betreten der Bibliothek hinter sich bringen und dann musste er zu Freerk. Der wusste garantiert irgendetwas und konnte ihm vielleicht erklären, was zum großen Mutterbaum hier vor sich ging. Vielleicht konnte sich die Alte jetzt endlich mal rühren und sie einsperren, mit ihrem Stock verprügeln oder was auch immer?! Je eher das hier vorbei war, umso besser. Er spürte es in seinem ganzen Körper: Er musste weg von hier, die Zeit lief. Liguster spannte seine Muskeln noch etwas mehr an. Gleich würde etwas geschehen, das fühlte er. Na los, sollte es doch. Er war auf alles vorbereitet. Doch das, was dann wirklich passierte, damit hätte er nie gerechnet: Die schmalen, von tiefen Falten zerfurchten Lippen der Alten verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln und die stechenden Augen begannen freundlich zu funkeln.

 

„So, du musst also weg von hier und ich bin eine gruselige Alte, was?“ Sie lachte heiser in einer erstaunlich tiefen Stimmlage. „Ja, junger Hoffnungsträger, du musst weg, sehr bald sogar und noch viel weiter weg als du denkst und vielleicht bin ich auch eine gruselige Alte.“ Sie sah ihn mit einem Blick an, der fast fürsorglich wirkte und vollkommen unerwartet irgendetwas tief in seinem Inneren berührte. „Aber vorerst musst du dich ausruhen. Und für dich …“ Aruna wandte sich an die nervös von einem Bein aufs andere tretende Lori, „für dich, Fünfte aus dem Herrscherhaus, gilt das Gleiche.“ Aruna seufzte und schien auf einmal um weitere hundert Jahre gealtert zu sein. „Veralore, bring deinen jungen Freund zu einer der freien Waben und dann leg dich schlafen. Morgen früh wenn der erste Sonnenstrahl auf die Kuppelspitze trifft, erwarte ich euch beide im Thronsaal.“

Mit diesen Worten drehte sich die Alte um und schlurfte davon. Kaum war Aruna außer Sicht, warfen sich Lori und Liguster einen kurzen Blick zu und machten beide gleichzeitig den Mund auf, um über die Prophezeiung und Aruna und den nächsten Morgen zu reden, als wie durch Magie ihre Münder wieder zuklappten und sich trotz aller Anstrengungen nicht wieder öffnen ließen.

„Ich habe gesagt, ihr sollt schlafen gehen“, hallte von irgendwoher Arunas knorrige Stimme durch die Luft.

Lori rollte mit den Augen, zuckte mit den Schultern und winkte dann Liguster, der sie mit großen Augen entgeistert anstarrte, hinter sich her.

 

Am nächsten Morgen brauchte Liguster nicht erst geweckt zu werden. Zu seiner Überraschung war er sofort eingeschlafen und noch vor dem ersten Morgengrauen frisch und erholt aufgewacht. Von der Bibliothek aus hatte ihn Lori über einige geschwungene Treppen auf eine zweite Ebene geführt. Einmal rund um das Hügelinnere lief ein breiter Arkadengang mit kunstvollen Verzierungen an den zierlichen Säulen. In regelmäßigen Abständen wurde die von den Blumen bewachsene Hügelwand von sechseckigen wichtgroßen Löchern unterbrochen. Ein feiner Vorhang von hauchzarten und vielfarbig schillernden Pflanzenfäden ergoss sich vor jeder aus den Ranken und schützte den Raum hinter dem Durchgang vor fremden Blicken. Liguster hätte Lori gerne nach all dem hier gefragt. Wie es gebaut worden war, was das für Pflanzen waren und was sich in den Räumen befand. Doch sein Mund ließ sich nach wie vor nicht öffnen. Also war er Lori einfach weiter stumm durch den Arkadengang gefolgt bis sie schließlich abrupt stehengeblieben war und auf die nächste Tür gedeutet hatte. Sie hatte Liguster kurz angesehen, auf ihren Mund gedeutet, abermals mit den Schultern gezuckt und war gegangen.

 

Jetzt würde sie gleich wiederkommen und ihn holen. Und vielleicht würde er dann endlich mehr erfahren. Seit seinem Blickduell mit Aruna und ihrem freundlichen Lächeln fühlte er sich eigenartig zuversichtlich, ja geradezu entspannt. Es würde sich schon alles aufklären. Wozu sich Sorgen machen? Gut gelaunt schwang Liguster seine Beine von der Liege und sah sich neugierig um. Der Raum hatte eine eigenartige Form. Jede Seite der sechseckigen Tür setzte sich nach innen weiter fort. Dadurch waren der Boden und die Decke sehr schmal und die Wände hatten in der Mitte einen Knick nach außen. In einem dieser Knicke war die Liege angebracht und ihr gegenüber befand sich ein schmaler Tisch, auf dem genauso ein matt leuchtender Stein lag wie in der Bibliothek. Was das wohl für ein Stein war? In Gundelfingen hatte er so etwas jedenfalls noch nie zu Gesicht bekommen. Na ja, genauso wie alles andere hier. Liguster stand auf, um den Stein genauer in Augenschein zu nehmen, da klickte es auf einmal leise hinter ihm. Erschrocken fuhr Liguster herum und sah erstaunt, dass sich die bemooste Liege nach unten geklappt hatte und stattdessen eine Art von stabilem Wurzelgeflecht sanft vom oberen Teil der Wand herunterschwang. Was war das? Vorsichtig ging Liguster näher und beugte sich über das seltsame Gebilde, in dem er interessiert unzählige feine Löcher entdeckte. Gerade wollte er sich wieder dem Lichtstein zuwenden, als aus den Löchern auf einmal ein feiner Wassernebel strömte. Erschreckt zuckte er zurück, nur um kurz darauf verzückt still zu halten und das gleichzeitig liebkosende und erfrischende Gefühl des Nebelschleiers auf seiner Haut zu genießen. Beim großen Mutterbaum, das war unglaublich. Nach einiger Zeit hörte die Nebelproduktion wie von selbst auf und er fühlte sich wunderbar wach und erfrischt. Das Moos glitzerte in einem tiefen Grüngold und die Luft schmeckte so sauber und lebendig wie nach einem weichen Sommerregen. Warum hatte er gestern nur gedacht, dass er hier weg musste. Eigentlich war es doch ganz nett hier. Diese – wie hatten sie es noch genannt – Wabe war offensichtlich frei und … In diesem Moment hörte er ein leises Klingen vom Eingang wie wenn man an verschieden straff gespannten Spinnenfäden zupfte.

 „Hallo?“, fragte er und merkte erst da, dass er seinen Mund wieder öffnen konnte.

 „Wir müssen in den Thronsaal“, hörte er die Stimme von Lori, die allerdings alles andere als gut gelaunt klang und ihn kurz darauf genervt zur Eile antrieb.

 

Der Thronsaal befand sich nicht weit von der Bibliothek entfernt in einem eher unscheinbaren Gebäude aus rotem Lehm. Der Grundriss war wie so vieles hier in Solbixgrund sechseckig. Die Wände hatten etwa die fünffache Wichthöhe und im oberen Drittel waren mehrere Reihen sechseckiger Fenster eingelassen, in denen bunte Scheiben saßen. Das Dach war flach und dicht bewachsen mit dem goldenen Moos, das auch den Boden überzog. Wie bei dem Hügeleingang und dem alten Teil der Bibliothek rankten sich auch hier die seltsamen Pflanzen um den Eingang und streckten ihre farbenprächtigen Blütenkelche in alle Richtungen. Liguster fühlte sich von der Nebeldusche noch immer geradezu beschwingt und folgte Lori mit einem breiten Lächeln in das Innere des Gebäudes. Während sie durch einen breiten Gang eilten, von denen links und rechts mehrere Waben abzweigten, rückte er seine rote Mütze gerade und strich seinen Überwurf aus Grashalmen glatt. Lori hatte auf dem ganzen Weg kein Wort gesagt und wirkte furchtbar angespannt. Was sie nur hatte? Nach seinem eigenen kleinen privaten Morgennebel konnte man sich doch einfach nur fantastisch fühlen.

 

„Da seid ihr ja“, hallte ihnen Arunas tiefe entgegen, sobald sie den großen Saal betraten, der von innen weitaus spektakulärer als von außen aussah. Betroffen sah sich Liguster um. Bunte Lichtstrahlen fielen durch die zahlreichen kleinen Fenster in den Raum und erfüllten die Luft mit einem farbigen Schillern. Rings herum an den Wänden standen moosgepolsterte Bänke und ihnen direkt gegenüber drei reich verzierte und bunt bemalte, hohe Stühle. In der Mitte saß eine Wichtin mit Unmengen von gelben Haaren, die sie wild auf ihrem Kopf aufgetürmt hatte und runden, leuchtend gelb glitzernden Wangen. Rechts neben ihr sah Liguster die alte Aruna. Ihr silbern schimmerndes Haar floss glatt an ihr hinunter und bildete einen seltsamen Kontrast zu ihrem zerfurchten Gesicht. Und ganz links saß ein langer schlaksiger Wichtel mit verstrubbelten honiggelben Haaren und müden Augen, die sich bei ihrem Eintreten liebevoll auf Lori richteten. Liguster ließ seinen Blick einige Mal irritiert zwischen Lori und den beiden gelbhaarigen Heidelingen auf den Stühlen hin und her wandern. Die Ähnlichkeit war offensichtlich und das hieß … ja, das hieß wohl tatsächlich, dass Lori ein Mitglied des Herrscherhauses war. Bisher hatte Liguster jede Andeutung in diese Richtung für sich als blühende Phantasie oder Wichtigtuerei verbucht. Selbst Arunas Anrede „Fünfte aus dem Herrscherhaus“ hatte er nicht ernst genommen, sondern für eine Art spöttische Bemerkung gehalten. Mitglieder eines Herrscherhauses waren doch nicht so wie Lori. Die waren überheblich und vornehm und redeten ganz bestimmt nicht mit einem einfachen Zwingelwicht wie ihm. Automatisch rückte er einen Schritt von Lori ab und warf ihr einen schnellen, befangenen Blick zu.

 „Veralore, Liebes, warum hast du uns nichts von deinem unbekannten Freund erzählt und einfach nach der Prophezeiung gefragt? Du weißt, wie gefährlich die Firnblumen sind!“, sagte die Herrscherin von Solbixgrund trotz ihrer weichen, melodischen Stimme in einem äußerst vorwurfsvollen Ton.

Lori zuckte mit den Schultern und sah trotzig auf den Boden. Ihre Mutter seufzte. „Immer musst du den schwierigen Weg wählen. Nie ist dir etwas aufregend genug und ständig gehst du unnötige Risiken ein. Am liebsten würde ich dich gar nicht gehen lassen.“

Jetzt schnellte Loris Blick nach oben. „Gehen lassen?“, fragte sie misstrauisch. „Wieso gehen lassen?“

Ihre Mutter seufzte noch einmal und lächelte sie traurig an. Dann sah sie zu Liguster: „Ich bin Myrrha Bixgrund, zehnte Regentin von Solbixgrund und Bewahrerin des alten Wissens. Im Namen aller Heidelinge heiße ich dich, Fremdling, in unserer Mitte willkommen, auch wenn der Einbruch in unsere geheime Bibliothek in unserer höchsten Festnacht alles andere als einen guten ersten Eindruck gemacht hat.“ Sie warf Liguster einen strengen Blick zu und fuhr fort: „Allerdings haben dich die Firnblumen hineingelassen und auch Aruna scheint nicht den geringsten Zweifel daran zu haben, dass du der Eine bist. Und dass du zusammen mit der Fünften aus dem Herrscherhaus aufgetaucht ist, spricht ebenso dafür. Also …“ Myrrha klatschte in die Hände und sagte mit einem gezwungenen Lächeln: „Fleißig, fleißig wie die Bienen. Wir haben viel zu tun. Ihr müsst innerhalb des nächsten Mondlaufs abreisen und bis dahin auf alles vorbereitet sein.“

 

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