7. Kapitel: Die Prophezeiung

Fortsetzungsroman Liguster Zwingelwicht by Lilu S. Kestlinger
Wortopolis Fortsetzungsroman | Die Prophezeiung | © Britta Stender

 

Nervös sah Liguster zum Horizont. Fast wünschte er sich, Lori würde doch nicht auftauchen und er könnte so tun, als hätte er nie etwas von dieser vertrollten Prophezeiung gehört. Doch ein anderer Teil in ihm brannte darauf, mehr zu erfahren. Was, wenn wirklich gerade er etwas Besonderes sein sollte? Wenn der Name Liguster Zwingelwicht ihn gar nicht ausmachte und er nicht der schreiende Findelwicht war, der von Lysopril verspottet und von den anderen Wichten ignoriert wurde? Wenn er der … Auserwählte wäre? Liguster fühlte eine Gänsehaut an seinen Armen emporkriechen und ein dumpfes Gefühl der Übelkeit in seinem Magen Platz nehmen. Er schüttelte sich und kniff die Augen zusammen, so als könnte er dadurch weiter in die Ferne schauen. Prüfend hielt er seine Hand hoch und sah zum südlichsten Hügel der Dünenheide. Die Sonne stand einen Fingerbreit über der Hügelspitze und überzog die purpurne Landschaft mit einer Flut aus goldenem Licht. Wo blieb nur Lori? Er kannte sie gerade mal einige Tage und schon verbrachte er den Großteil seiner Zeit damit, auf sie zu warten. Irgendetwas lief hier gewaltig schief.

„Bist du bereit?“, zischte es aus einmal hinter ihm und Liguster zuckte erschreckt zusammen. Lori hatte sich an ihn herangeschlichen, ohne dass er auch nur das Geringste bemerkt hatte. So besonders ‚auserwählt‘ wirkte das nicht auf ihn. Umso mürrischer und einsilbiger fiel seine Antwort aus: „Was denkst du denn?“

Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck, hinter dem er all seine Nervosität zu verstecken versuchte, folgte er der zierlichen Gestalt, die ohne eine weiteres Wort zu verlieren davongesprungen war. Leichtfüßig und in einem irrwitzigen Tempo jagte sie zwischen den hohen Halmen des Grases entlang. Liguster war drahtig und zäh. Wenn es darum ging, seinen Wicht zu stehen, gab er niemals klein bei, teilte effektiv aus und steckte viel weg. Aber laufen … das war wirklich nicht sein Ding. Keuchend eilte er hinter Lori her und versuchte, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Mittlerweile hatten sich die Strahlen der Sonne von Gold in ein glühendes Orange verwandelt, das sich zwischen den Grashalmen hindurchschlängelte und alle Farben um ihn herum veränderte. Schwer auf seine Atmung konzentriert, nahm Liguster nur am Rande war, dass sie sich mittlerweile schon mitten in der Dünenheide befanden. Der Boden war ganz anders als im Forst, nicht weich und federnd, sondern sandig und von harten Flechten überzogen. Über ihm ragten die dunkelrot blühenden Stängel der Heidepflanzen in den Himmel und die Luft roch heiß und süß. Liguster wäre nur allzu gerne stehengeblieben und hätte sich die Landschaft in aller Ruhe betrachtet. Aber Lori war schon wieder weit voraus. Also hastete er weiter hinter ihr her, bis sie auf einmal abrupt stehenblieb. Erleichtert verlangsamte Liguster sein Tempo und versuchte, seine Atmung etwas zu beruhigen, bis er sie erreichte.

„Da vorne ist es“, flüsterte Lori mit einem spöttischen Seitenblick, als er endlich aufgeschlossen hatte. Liguster bemerkte ihren belustigten Gesichtsausdruck, der wohl seiner etwas ausbaufähigen Laufleistung galt und streckte trotzig den Rücken durch. Aber dann sah er, was ‚da vorne‘ war. Das musste Solbixgrund sein.

Unzählige Laternen erhellten in dem dunklen Zwielicht der Weißen Nacht einen heidebewachsenen Hügel, der von einem breiten Gürtel üppig blühender Heiderosen umgeben war. Oben auf der Hügelspitze sah er die Heidelinge wild und ausgelassen tanzen. Fetzen einer eigenartig verführerischen Musik erreichten sein Ohr und Liguster fühlte es in seinen Beinen zucken. Sein Blick wurde wie magnetisch von den tanzenden Gestalten angezogen. Er sah ihre prächtigen Blütenblattkleider und ihre mit glitzerndem Staub bestrichenen Gesichter, Arme und Beine, die sich zur Musik bewegten. Es war wunderschön. So wunderschön. Er musste einfach dahin und … mittanzen … Liguster erhob sich und ging darauf zu. Doch auf einmal wurde er heftig zurückgerissen und Lori sah ihn ärgerlich an. „Ich dachte, du wolltest die Prophezeiung sehen. Oder möchtest du dich lieber von der Musik der Nimfen berauschen lassen und tanzen, bis du im Morgengrauen als Fremdling erkannt und eingesperrt wirst?“

Liguster schüttelte sich. Musik der Nimfen? Er hatte bisher nur Gerüchte darüber gehört. Die Zwingelwichte feierten mit ihrer eigenen Musik, die sich kaum von den natürlichen Geräuschen des Waldes unterschied. Aber das war nichts im Vergleich zu dieser Musik. Er hatte noch nie etwas Ähnliches gehört. Es war wie ein Lockruf der Sterne, wie ein Gesang der süßesten Blumen, wie ein sanftes und zugleich stürmisches Rauschen des Windes. Plötzlich gab es ein klatschendes Geräusch und Liguster fasste sich automatisch an die schmerzende Wange. Autsch. Was zum großen Mutterbaum … Wütend sah er zu Lori und bemerkte dann auf einmal bestürzt, dass er schon wieder einige Schritte in Richtung des Heidehügels gegangen war. Verwirrt sah er sich um.

„Hier, steckt dir das in die Ohren. Sonst kommen wir nie zur Bibliothek.“ Lori hielt ihm zwei gelbe Kügelchen hin und Liguster nahm sie zögernd entgegen.

„Was ist das?“

„Was schon, Meister Keine-Ahnung-von-Irgendwas, Bienenwachs natürlich.“

Mit dem Wachs in den Ohren konnte Liguster kaum noch etwas hören. Und so verständigten Lori und er sich durch Handzeichen. Stück für Stück schlichen sie sich an den Hügel heran. Immer deutlicher konnte Liguster aus seiner schattigen Deckung heraus die verzückten Gesichter der Heidelinge erkennen, die sich in ekstatischer Trance zu der Nimfenmusik bewegten.

Endlich kamen sie am Eingang des Hügels an, der wie ausgestorben dalag. Es schien sich im Moment tatsächlich jeder einzelne Heideling auf der Hügelspitze zu befinden. Vorsichtig schauten sie sich um und gingen eng an die Hügelwand gedrückt durch das Tor, das Liguster von seiner Größe her an den Eingang eines Mäuselochs erinnerte. Doch auch hier schien irgendeine Wichtmagie zu wirken. Denn um den Eingang herum rankten sich exotische Blumen, die Liguster noch niemals zuvor gesehen hatte. In gleichmäßigen Schlängellinien verzierten tiefgrüne Ranken und purpurrote, violette und weiß-gelbe Blüten den Eingang nach Solbixgrund. Im Inneren war der Hügel hohl und erhob sich wie eine riesige Kuppel über ihnen. Staunend sah Liguster sich um, während Lori ihn unaufhaltsam hinter sich her zog. Liguster hatte einen dunklen Bau erwartet, aber stattdessen breitete sich vor ihm eine bunte Stadt aus kunstvollen, mehrstöckigen Bauten, filigranen Säulen und geschwungenen Arkadengängen aus. Die Kuppel über ihm erstrahlte in allen Farben des Regenbogens und wurde nach oben hin immer heller und heller, so dass der Mittelpunkt fast wie eine Sonne erstrahlte. Überall im Hügel rankte sich dieselben exotischen Blumen wie am Eingang entlang und der Boden war von einem weichen Polster goldenen Mooses bedeckt. Von den Blumen wie von den Farben der Kuppel ging auf irgendeine Weise ein warmes, gelbes Licht aus, das einen mit kribbelnder Energie erfüllte.

 

Liguster und Lori mussten fast die gesamte Stadt durchqueren, bis Lori endlich vor einem riesigen Palast aus hellem Tonstein Halt machte und Liguster bedeutete, das Bienenwachs aus den Ohren zu nehmen. In den Ton des Gebäudes waren funkelnde Edelsteine zu Bildern eingearbeitet, die quer über die Wände hinweg Geschichten erzählten. Liguster versuchte fasziniert, die Bedeutung der Bilder zu entschlüsseln. Doch kaum hatte er einmal geblinzelt, überzogen ganz andere Bilder die Wände, ohne dass Liguster auch nur die kleinste Bewegung bemerkt hätte. Überwältigt schüttelte er den Kopf.

„Komm schon“, flüsterte Lori ungeduldig und zerrte ihn in das Innere. Dort bestanden die Wände aus sechseckigen Fächern, die mit Blattrollen gefüllt waren. Von den Außenwänden zweigten sich in regelmäßigen Abständen weitere Wände in den großen Raum hinein ab. Und auch sie bestanden aus diesen Sechseck-Fächern. Dazwischen standen Stühle und Tische, auf denen leuchtende Kristalle lagen. Abrupt blieb Liguster stehen. Was war das alles hier? Gerade wollte er einen der Kristalle in die Hand nehmen und untersuchen, da boxte ihn Lori gegen die Schulter.

„Wir haben keine Zeit für sowas“, zischte sie. „Die alte Aruna nimmt am Tanz nie teil und deswegen könnte sie hier jeden Moment auftauchen. Und wenn sie uns dabei erwischt, wie wir in den geheimen Teil einbrechen, dann haben wir Probleme, von denen du bisher wirklich noch nicht einmal den Anflug einer Ahnung hast.“

Widerwillig riss sich Liguster von dem Anblick los und folgte Lori auf ihrem Weg durch die Bibliothek. Als sie unzählige Male abgebogen waren und Liguster schon längst die Orientierung verloren hatte, blieb Lori auf einmal stehen. Vor ihnen rankten sich wie am Eingang des Heidehügels die zauberhaften Blumen rings um einen Durchgang. Und jetzt entdeckte Liguster auch, was sie zusätzlich vermochten. Die Ranken hatten sich zu einem undurchdringlichen Netz miteinander verwoben, aus dem ihm spitze Dornen entgegenragten.

„Und jetzt?“, fragte er.

„Jetzt kommt der wirklich spannende Teil“, antwortete Lori und Liguster hörte ihre Stimme angespannt zittern.

Interessiert beobachtete er, wie sie ein kleines Fläschchen aus einer Umhängetasche hervorzog und sich daraus eine dunkelblaue Flüssigkeit auf die Fingerspitzen tropfte. Dann verteilte sie die Flüssigkeit an ihrem Hals und strich mit den Fingern über ihre Haare und ihren Körper.

„Was machst du da“, fragte Liguster irritiert.

Lori antwortet gepresst: „Ich versuche, meine Mutter zu imitieren. Das ist ihr Duftwasser. Und die Firnblumen werden gleich an mir riechen und dann entscheiden, ob sie uns durchlassen.

„Ihr habt riechende Blumen, die etwas entscheiden?“ Liguster hatte Mühe, nicht laut zu lachen, so seltsam hörte sich das für ihn an.

„Halt den Mund“, schnappte Lori.

Mit einem gleichermaßen skeptischen wie amüsierten Blick sah Liguster dabei zu, wie sie sich jetzt nah vor den Durchgang stellte und sagte: „Ich bitte um Einlass.“

Nichts passierte und Ligusters Grinsen verbreiterte sich.

Lori wiederholte: „Ich bitte um Einlass.“

Da sah Liguster, wie sich eine kleine Ranke zögerlich auf Lori zubewegte. Erstaunt hielt er die Luft an. Die Pflanze tastete sich durch die Luft langsam an Lori heran. Und wirklich, es sah aus, als schnüffelte sie an ihr. Lori warf Liguster einen aufgeregten und siegessicheren Blick zu. Doch auf einmal zuckte die Pflanze zurück und verharrte in der Luft. Die Stacheln an den Ranken schienen länger und spitzer zu werden und in Loris Blick schlich sich ein panischer Ausdruck.

„Es funktioniert nicht“, flüsterte sie mit zitternder Stimme und rief kurz danach: „Lauf!“

 

Verwirrt setzte Liguster an, Lori hinterherzustürmen. Doch noch bevor er auch nur einen einzigen Schritt machen konnte, packte ihn etwas am Fußknöchel und er stürzte zu Boden. Im nächsten Augenblick baumelte er kopfüber in der Luft und wurde von den Ranken der Firnblumen betastet. Liguster war viel zu überrascht, um einen klaren Gedanken zu fassen und warf Lori, die in einiger Entfernung stehengeblieben war, einen hilfesuchenden Blick zu. Plötzlich griffen noch mehr Ranken nach ihn, schlangen sich um seine Arme, drehten ihn in der Luft und stellten ihn sanft auf den Boden. Kurz danach war der Durchgang frei.

„Wieso lassen dich die Firnblumen hindurch?“, fragte Lori fassungslos. Sie hatte sich wieder näher gewagt und stand jetzt direkt neben Liguster.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Liguster mit belegter Stimme und machte mit einem mulmigen Gefühl im Bauch einen Schritt in den Raum hinein. Innen drin sah der Raum kein bisschen anders aus als die restliche Bibliothek. Auch hier gab es diese Wabenfächer, die mit lauter Blattrollen gefüllt waren, einen Tisch und Stühle und leuchtende Kristalle. Lori sah sich suchend um und strich mit ihrem Finger an den einzelnen Fächern entlang. Liguster hatte keine Ahnung, worauf sie achtete. Für ihn sah ein Fach wie das andere aus. Wie festgewurzelt stand er mitten im Raum und war so angespannt, dass er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.

„Ich glaub‘, ich hab’s“, rief da auf einmal Lori und zog eine Blattrolle hervor. Sie ging damit zum Tisch, rollte sie auseinander und las:

 

 

Was eins sein muss, das wurde getrennt

 Das Friedensglück verschenkt

 Doch der schreckliche Zwist darf nicht länger bestehen

 Als bis fünf Sterne in einer Reihe stehen

 Sonst muss das Volk vergehen

 Muss fortan mit Stängeln und Blättern

 Statt Armen und Beinen stehen

 Einem kann es gelingen

 Das Band neu zu knüpfen

 Einem, der Goldauge beflüstert

 Und auf Bienenpelz fliegt

 Einem ohne Namen und Ahnen

 Dem kann es gelingen

 Gemeinsam mit einer Fünften

 Den Fluch zu bezwingen

Auf dem langen Weg vom Wissenshügel

Zur Quelle der Nacht

 Das Rätsel zu lösen von Zwist und Hass

 Zu entfalten die Flügel

 Der großen Macht

 Das Kleinod zu finden

 Und wieder zu verbinden

 In der magisch weißen Nacht

 

 

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