4. Kapitel: Wer bist du und was machst du hier?

Fortsetzungsroman Liguster Zwingelwicht by Lilu S. Kestlinger
Wortopolis Fortsetzungsroman | Wer bist du und was machst du hier? | © Britta Stender

 

Auf seinen heimlichen Ausflügen war Liguster bisher nie besonders weit gekommen. Daher hatte er zunächst eigentlich überhaupt keine Ahnung, wohin er gehen sollte. Bis ihm die Karte in seiner mysteriösen neuen Tasche einfiel. Er sah sie sich lange und gründlich an. Und irgendwann, als ihm wiederholt aufgefallen war, dass er automatisch immer wieder auf die gleiche Stelle der Karte schaute, war ihm klar, wohin ihn seine Schritte lenken würden.

 

Natürlich wollte er im Wald bleiben. Schließlich war er trotz aller Andersartigkeit doch noch ein Zwingelwicht. Und Zwingelwichte lebten nun einmal im Wald. Sie konnten nicht ohne den Wald und der Wald konnte nicht ohne sie. Alles hing irgendwie zusammen. Dennoch hatte es ihm die Dünen-Heide irgendwie angetan. Dort am Waldrand würde er sich erstmal einrichten. Es musste unglaublich sein, die purpurne Heideblüte zu sehen, die hügelige Landschaft und den unverstellten Horizont. Horizont... das Wort hatte er im Findelheim mal aufgeschnappt und er wusste, dass man ihn nur dort sehen konnte, wo nichts die Sicht behinderte. Vorstellen konnte er es sich trotzdem nicht. Wie mochte so ein Horizont wohl aussehen? Nach Süden musste er. Soviel war klar. Doch auf einen tage- oder sogar wochenlangen Fußmarsch hatte er nicht die geringste Lust. Nachdenklich sah Liguster sich um. War nicht vielleicht eine Ameise in der Nähe, die ihn ein Stück weit mit sich nehmen konnte? Die Sonne stand noch niedrig am Himmel und er saß in einer von Löwenzahnpollen weich gepolsterten Vertiefung an einer mächtigen Baumwurzel. Hier hatte er die letzte Nacht verbracht und im dem Lichtschein, den ihm ein Glühwürmchen freundlicherweise gespendet hatte, die Karte studiert.

 

Als Liguster sich endlich aufraffen konnte, hatte sich die Sonne schon ein deutliches Stück weiter bewegt und tastete mit ihren wärmenden Strahlen zärtlich über den Waldboden. Liguster seufzte, streckte sich, hängte sich seine neue Tasche um und wollte gerade den ersten Schritt machen, als sich mit donnerndem Getöse eine Biene ankündigte. Liguster sah sich suchend um und wurde dann auf einmal von einem kräftigen Windstoß fast von den Füßen gefegt. Mit einem eleganten Manöver landete unmittelbar vor ihm eine schlanke Honigbiene. Sie entrollte einmal ihren Saugrüssel, spreizte ihre Beine kurz von sich als würde sie sich strecken und sah Liguster dann abwartend an. Ja, sie sah ihn aus ihren riesigen Facettenaugen tatsächlich an. Das klang nicht nur seltsam, das war seltsam. Außerordentlich seltsam! Seit wann, zum großen Mutterbaum nochmal, hatten Honigbienen und Zwingelwichte irgendetwas miteinander zu tun? Und um das Ganze noch eine Spur abgedrehter zu machen, war sich Liguster aus irgendeinem Grund vollkommen sicher, dass die Biene ihn gerade dazu einlud, mit ihr zu fliegen. Verwirrt schüttelte Liguster den Kopf und machte zögerlich einen Schritt auf die Biene zu. Das ging doch alles nicht mit rechten Dingen zu! Doch, wenn die Biene tatsächlich bereit war, ihn mitzunehmen, wer war er, sich darüber zu beschweren? Er würde noch heute am Waldrand ankommen und sich ein neues Zuhause suchen können.

 

Nachdem er seine Scheu überwunden und die Biene einmal kräftig duch ihren Brustpelz gekrault hatte, sprang er kurzentschlossen auf ihren Rücken und hielt sich fest. Und das keine Sekunde zu früh. Denn ohne, dass er auch nur ein Wort gesagt hätte, erhob sich die Biene schwankend in die Luft und wandte sich mit einem mächtigen Luftzug und Gebrumm in Richtung Süden. Pfeilschnell tanzte die Biene in ihrem eigentümlichen Flugstil zwischen den Baumstämmen hindurch. Liguster brauchte eine Weile, bis er das Gefühl der Übelkeit im Griff hatte und die Augen öffnen konnte. Doch von diesem Moment an genoss er den Flug in vollen Zügen. Er sah den Wald aus einer ganz neuen Perspektive. Statt wie so sonst in der untersteten Waldetage war er auf einmal auf mittlerer Höhe und entdeckte jede Sekunde etwas Neues. Fast war Liguster enttäuscht, als er bemerkte, dass sich die Baumstämme lichteten und immer häufiger sandige Flächen zwischen den Graspolstern hervorblitzten. Er war wohl fast am Ziel.

 

Schließlich war es soweit. Vor ihm, untermalt von dem dramatischen Brummen der Biene, breitete sich die Dünen-Heide aus. Liguster hatte das Gefühl, dass sich seine Augen erst an den Eindruck von Weite und Helligkeit gewöhnen mussten und im Moment noch vollkommen überfordert von den ganzen Eindrücken waren. Er sah alles und doch gar nichts. Sandfarbene Hügel zogen sich über eine scheinbar endlose Fläche, unterbrochen von blaugrünen Büschen, die sich wie spitze Säulen in den Himmel streckten. Heideflächen, die vereinzelt in tiefem Purpurrot leuchteten und trockenes Gras verschwammen zu einem verwischten Bild voller bunter Tupfen. War das der Horizont? Langsam sank die Biene Richtung Boden. Mit einem leichten Federn setzte sie auf und hielt still. Die plötzliche Ruhe tat Liguster fast in den Ohren weh und er fühlte sich seltsam schwindelig. Mühsam und mit steifen, verkrampften Gliedern ließ er sich vom Rücken der Biene gleiten und stakste einige Schritte weit, um ihr in die Augen schauen zu können. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck verneigte er sich vor ihr und sagte dann: "Ich danke dir für deine Hilfe. Es war mir eine Ehre, mit dir fliegen zu dürfen. Elau kalenadi." Dann fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu: "Das war echt der Wahnsinn, Biene!" Obwohl die Biene gar keinen Mund hatte, sah es aus als würde sie lächeln, bevor sie ihre Flügel wieder in Bewegung setzte und mit einem ohrenbetäubenden Brummen wieder davonflog.

 

Da war er also. Mit einem leichten Anflug von Unbehagen schaute sich Liguster um. Wie er es sich seit Jahren erträumt hatte, war er endlich weg von Gundelfingen und ganz alleine. Fröstelnd rieb sich Liguster über seine Arme. Was nun? Er musste sich einen Unterschlupf für die Nacht suchen. Die Sonne stand schon ziemlich tief und er war von dem langen Flug total erschöpft. Wie still es auf einmal war. Ungewöhnlich still für einen Wald, der niemals schlief. Zögernd setzte er sich in Bewegung und ließ dabei seinen Blick schweifen. Und auf einmal sah er es. Sein Zuhause. Nur durch Zufall. Weil die Sonne gerade in einem bestimmten Winkel auf den Baum schien und ein Luftzug das Farnblatt zur Seite wehte, hatte er es gesehen. Es war die letzte Eiche vor der Heidelandschaft. Im Schatten des üppigen Blätterdachs waren die Baumwurzeln mit dunkelgrünem Moos überwuchert und von filigranen Farnpflanzen und sattgrünem Sauerampfer umstellt. Eine Bauwurzel ragte weit hoch an den Stamm des Baumes und am Ende der Wurzel sah Liguster eine Höhle, umrankt von weiß blühenden Walderdbeeren mit einer Menge roter Früchte. Nachdem Liguster sein neues Zuhause eine Weile aus der Ferne bewundert hatte, sprang er die Baumwurzel hinauf, tauchte hinter den Farnvorhang und inspizierte die Wohnung. Weiches Moos polsterte sie komplett aus und durch einen Riss in der Rinde drang das rote Licht der untergehenden Sonne hinein. Liguster trat wieder hinaus, pflückte sich eine Erdbeere und setzte sich damit auf die Baumwurzel, um dem Sonnenuntergang am Horizont zuzuschauen. Gar nicht schlecht, dachte er bei sich, gar nicht mal so schlecht.

 

Am nächsten Morgen wurde er davon geweckt, dass ihn etwas schmerzhaft in die Seite knuffte. Verwirrt schlug Liguster die Augen auf. War alles wieder einmal nur ein Traum gewesen und er war doch noch im Findelheim? Doch als er die Augen ganz geöffnet hatte, zuckte er erschreckt zusammen und starrte gleichermaßen entsetzt wie fasziniert auf ein Mädchen mit honigfarbener Haut und langem blütenpollengelbem Haar, das ihn offensichtlich in diesem mit ihrem überaus zierlichen Fuß wiederholt in die Seite treten wollte. Doch als sie sah, dass er wach war, fragte sie stattdessen mit gerümpfter Nase : "Wer bist du und was machst du in meinem Haus?"

 

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