
https://www.wortopolis.de/2018/04/11/10-kapitel/
Schritt für Schritt näherte sich Liguster den überdimensional großen Schnecken. Dabei überschlugen sich seine Gedanken. Wie, beim großen Mutterbaum, sollte er sie dazu bringen, weiterzuziehen?
Und warum überhaupt? Nur, weil Aruna ihn darum bat? Honigpilze waren böse! Es war gut für den Wald, wenn die Tigerschnegel sie auffraßen. In diesem Moment überkam Liguster schlagartig ein
eigenartiges Gefühl von heiterer Zuversicht. Als würde ihn eine Wolke von Vertrauen einhüllen und durchdringen. Auf einmal war sich Liguster sicher, dass von dem Honigpilz tatsächlich keine
Gefahr für den Zwingelforst ausging. Nein, eher das Gegenteil ... was auch immer das nun wieder bedeuten sollte.
Kühl war es hier unten in der Höhle. Die Luft schmeckte abgestanden und roch nach fauligem Holz und feuchter Erde. Das vom Pilzmyzel durchdrungene Holz glimmte in einem kalten Licht. Es war eine
unheimliche Welt, so ganz anders als an der Oberfläche. Liguster schauerte. Er war nur noch wenige Schritte von den Tigerschnegeln entfernt und sah dabei zu, wie sie in beeindruckender
Schnelligkeit die gelben Pilzköpfe abfraßen. Mit einem Teil seines Verstandes war ihm klar, dass er bei diesem Anblick normalerweise Erleichterung und Befriedigung verspüren müsste. Der Honigpilz
wurde vernichtet. Gut! Aber eigenartigerweise löste das Bild jetzt Schmerz und Mitgefühl bei ihm aus, fast schon Panik.
»Halt«, rief Liguster und seiner Stimme hörte man die ungewöhnlichen Gefühle deutlich an. Mit einigen schnellen Schritten war er bei den Tigerschnegeln, die ihre Fühler neugierig in seine
Richtung streckten. Ohne nachzudenken, baute sich Liguster vor der ersten Schnecke auf. Es war die größte von den dreien. Sie war so groß, dass auf ihrem Rücken Trumpert Gundelgroß samt seinem
Gefolge bequem Platz gefunden hätte. Die graue Haut des Schnegels glitzerte leicht in dem fahlen Licht und die schwarzen Streifen und Flecken gaben ihm ein majestätisches Aussehen. Der
Mantelschild hinter dem Kopf, der ihren Körper wie eine Mischung aus Königsrobe und Schutzschild umgab, verstärkte den Eindruck noch.
Ruhig und höflich begann der junge Zwingelwicht der riesenhaften, grau-schwarzen Schnecke sein Anliegen vorzutragen. Die hinteren Fühler des Schnegels, an deren Ende die winzigen schwarzen Augen
saßen, waren dabei stetig in Bewegung, als würden sie ihn aufmerksam begutachten. Schließlich kam einer der Fühler Liguster ganz nah und schielte ihm direkt ins Auge. Eine Weile standen sie sich
stumm gegenüber, Auge in Auge. Man hörte nur von irgendwoher das leise Kratzen von Insektenbeinen auf totem Holz und das leichte Rauschen der Luft, die von dem Schnegel in sein Atemloch
eingesaugt und wieder ausgestoßen wurde. Dann, ohne dass er es in Worten hätte ausdrücken können, verstand Liguster die Antwort der Schnecke. Ein Gefühl der Heiterkeit überkam ihn und ein
fröhliches Grinsen zog seinen Mund in die Breite. Der Schnegel senkte den Kopf und der junge Zwingelwicht ging in die Knie, um kurz darauf mit einem gewaltigen Satz auf den Rücken der Schnecke zu
springen. Dann setzten sich alle drei Tigerschnegel gleichzeitig in Bewegung, Liguster obenauf.
Es war wunderbar, auf einer Schnecke zu reiten. Weich zog sich der feste Körper unter ihm zusammen und streckte sich wieder. Schaukelnd, rhythmisch, ruhevoll. Tiefer Frieden und eine
gelöste Stimmung erfüllten ihn, während ihn der große Tigerschnegel zielstrebig aus der Höhle trug. Von Sekunde zu Sekunde nahm die Helligkeit um ihn herum zu und kaum glitten die Schnecken
hinter den Farnwedeln am Eingang der Höhle hervor, atmete Liguster wie befreit auf. Tief sog er die frische Waldluft in seine Lungen und sein Zwingelwicht-Herz klopfte so kräftig, als wäre es
direkt an den Fluss der Kraft angeschlossen. Die Schnegel hielten an und Liguster sprang hinunter. Einen Moment lang blieben sie voreinander stehen und sahen sich von Schneckenfühler zu Wichtauge
an. Liguster lächelte und deutete eine Verneigung an.
»Ich danke euch«, sagte er. Und dann beschrieb er ihnen den Weg zur Asselhöhle. Dort gab es mehr als genug von dem, was die Schnegel als Delikatessen betrachteten. Versonnen sah Liguster den drei
großen Schnecken nach, als sie sich unverzüglich auf den Weg machten.
Da rempelte ihn auf einmal etwas von hinten an und zwei schlanke Arme schlossen sich fest um ihn. »Ach, Li, das war so ... so ... Ich weiß auch nicht. Dunkelpurpur? Wie hast du das gemacht? Erst
stellst du dich da so einfach hin und machst eigentlich gar nichts und dann ... dann springst du auf einmal echt auf die Schnecke rauf. Auf die Schnecke! Und dann reitest du auf ihr. Du reitest
auf einer Schnecke! Ich kann es gar nicht glauben. Ach, Li, das war wie pure Magie!«
Liguster stand stocksteif da. Der schmale Körper, der sich an ihn presste und die Arme, die ihn umschlangen, machten ihm das Atmen schwer. Und das, obwohl sein Herz gerade deutlich mehr Luft
brauchte also sonst. Hatte ihn irgendwann in seinem Leben schon mal jemand umarmt? Liguster konnte sich nicht daran erinnern. Er wusste nur, dass er keine Ahnung hatte, wie er sich jetzt
verhalten sollte. Also stand er einfach steif wie ein Stock da und wartete darauf, dass sie ihn wieder losließ. Oder fürchtete er sich davor, dass sie ihn wieder losließ? Liguster war
verwirrt.
»Das hast du gut gemacht, junger Zwingelwicht.« Die ächzende Stimme Arunas hörte sich fast fröhlich an. »Ich denke, diese Gabe wird euch bei eurer Aufgabe eine große Erleichterung sein.«
Quanjo sagte gar nichts, sondern schaute Liguster nur missvergnügt an.
Während des Rückwegs nach Solbixgrund war der Zwingelwicht ganz in seine Gedanken versunken und dachte über das eben Erlebte nach. Bei all der Herrlichkeit der Heidelinge-Stadt hatte er sich dort
zu keiner Zeit so wohl gefühlt, wie gerade eben zwischen den grünen Farnwedeln und den mächtigen Baumstämmen des Waldes. Das hätte er nicht erwartet. Anscheinend änderte die Abneigung von
Lysopril und den anderen Zwingelwichten, die er zeitlebens erfahren hatte, nichts daran, dass der Zwingelforst seine Heimat war. Der Duft nach Moos und Erde, nach Zapfen und Waldbeeren löste in
ihm einen wohligen Frieden aus. Das Gleiche machten die Geräusche und die Farben mit ihm. Dieses herrlich satte Grün in seinen unzähligen Schattierungen, das hohl klingende Klopfen des Spechtes,
das Rauschen der Blätter im Wind oder das Gurren der Tauben – all das gehörte zu ihm. Fast widerstrebend folgte er daher jetzt den Heidelingen auf dem zunehmend sandigen Boden in die struppige
Vegetation der Dünenheide. In dem Moment fing er einen Blick von Lori auf, die noch immer so begeistert aussah, als hätte sie eben die große Mutter persönlich gesehen. Dabei formte sie mit den
Lippen überdeutlich ein Wort: »Dunkelpurpur.«
Liguster musste grinsen und in seiner Brust fühlte es sich an, als würde ein Moosteppich dort Sporen verschießen. Und ganz plötzlich war von dem Waldheimweh so wenig übrig wie von einem
Nebelschleier in der heißen Mittagssonne: gar nichts.
Später, gerade als Liguster sich zur Nachtruhe in seine Wabe zurückgezogen hatte, ließ Aruna ihn noch einmal zu sich rufen. Mittlerweile brauchte er niemanden mehr, der ihn die verwinkelten Wege
von Solbixgrund entlangführte. Sein Orientierungssinn war ohnehin sehr stark ausgeprägt, nicht zuletzt weil Lysopril und seine Schatten ihn immer wieder irgendwo mit verbundenen Augen im Wald
ausgesetzt hatten. Außerdem war er während der letzten Sonnenläufe in jeder freien Sekunde durch den Heidehügel gestreift und hatte ihn erkundet. Wer wusste schon, ob er die Wunder dieses Ortes
jemals wiedersehen würde, wenn er erst mal zur Mission aufgebrochen war. Und solange ihm die Heidelinge noch freundlich gesonnen waren, wollte er es ausnutzen und sich überall umschauen.
Zügig überquerte Liguster eine zierliche Brücke und bog nach rechts in einen langen Arkadengang ein. Eine Firnblume strich ihm sanft über die Wange und er erwiderte die Geste mit einem
freundlichen Klopfen auf eines ihrer Blätter. Schlagartig vertiefte sich die Farbe des Blütenkelchs um einige Schattierungen von fingerhutrosa zu waldziestpurpur und der süße Duft reifer
Erdbeeren durchzog plötzlich die Luft. Liguster lächelte und setzte seinen Weg fort. Unter ihm federte das goldene Moos bei jedem Schritt. Und weit über ihm hatte die Kuppel ihr warmes,
strahlendes Tageslicht zu einer diffusen, freundlichen Dämmerung abgeschwächt. Noch einmal bog Liguster ab, dann stand er vor dem Haus, in dem Aruna lebte. Das sechseckige Gebäude schloss sich
nach oben zu einer flachen Kuppel zusammen und hatte an fünf aneinandergrenzenden Seiten jeweils einen kleinen Anbau. Der rötliche Ton des Hauses war schmucklos. Einzig die Fenster mit buntem
Glas unterbrachen die glatte Fassade.
»Da bist du ja endlich!«
Die Pflanzenfäden im Eingang wurden von zwei zartgliedrigen Händen auseinandergeschoben und Loris gelb-rot schimmernde Gestalt schob sich hindurch.
»Ich warte hier schon ewig, Li. Aruna will mir einfach nicht verraten, worum es geht!«
Lori griff nach seiner Hand und zog Liguster eilig hinter sich her. Währenddessen wandte sie den Kopf und sah ihn vorwurfsvoll an.
»Du hast ganz schön getrödelt, Schneckenreiter! Dabei platze ich fast vor Neugier.«
»Schneckenreiter?« Liguster verzog das Gesicht. »Das hört sich irgendwie schleimig an, auch nicht viel besser als ›Warzenwicht‹ wie sie mich in Gundelfingen genannt haben.«
»Wie haben sie dich genannt?!« Loris Unterkiefer schob sich leicht nach vorne und ihre Stirn runzelte sich drohend.
»Schon gut«, wiegelte Liguster ab. »Das ist doch Blütenstaub von gestern.«
In dem Moment hatten sie das große Zimmer im Zentrum des Gebäudes durchquert und den ersten Anbau auf der linken Seite betreten. Hier zwischen den dicht aneinandergereihten Wabenfächern mit
unzähligen befüllten Samenkapseln und eng beschriebenen Blattrollen hielt sich Aruna die meiste Zeit auf, studierte alte Aufzeichnungen und mischte irgendwelche geheimnisvollen Rezepturen. Gleich
beim Eintreten bemerkte Liguster ein bläuliches Leuchten, das aus mehreren der Kapseln drang. Da befand sich wohl das Pilzmyzel drin, wegen dem er heute dem Honigpilz hatte helfen sollen.
»Gut, gut, da seid ihr ja beide.« Aruna ließ mit einer erstaunlich raschen, fast schon hektischen Handbewegung das Blatt zusammenrollen, das sie gerade gelesen hatte und schob es zur Seite.
»Der Grund, warum ich euch heute noch einmal hergebeten habe, ist das erfolgreiche Schnegel-Experiment.« Aruna zog ihre dünnen Lippen in die Breite und tiefe Lachfalten gruben sich durch ihr
Gesicht. Sie wandte sich Liguster zu und sah ihn ebenso freundlich wie wohlwollend an.
»Meinst du, die Tiere würden auch noch einen zweiten Reiter tragen, wenn du sie darum bittest, junger Zwingelwicht?«
Liguster zuckte mit den Achseln. »Das kann ich nicht sagen. Ich habe es noch nie versucht.«
Aruna nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Und welches Tier würdest du wählen, wenn du dir ein Reittier für eure Reise aussuchen müsstest?«
Langsam ahnte Liguster, worum es ging und er wechselte einen schnellen Blick mit Lori, die so aufgeregt auf der Stelle wippte, dass ihre langen Haare in immer neuen goldgelben Wellen an ihr
herunterflossen. Bilder von allen Lebewesen, auf denen er schon geritten war, tauchten schlagartig in seinem Kopf auf: Ameisen, Kröten, Bienen, Schnegel. Dann sah er das Bild von der Libelle aus
den Aufzeichnungen über den Rosensee vor sich und die Gruppe von Rollasseln in der Honigpilz-Höhle. Er dachte an Schmetterlinge, Tausendfüßler, Hirschhornkäfer, an Grashüpfer und Grillen.
Unmöglich könnte er sich für eines entscheiden. Und er wusste ja auch gar nicht, ob es dann damit einverstanden wäre, ihn zu tragen.
»Auch das kann ich nicht beantworten, tut mir leid«, sagte er und fühlte sich mal wieder kolossal unwohl in dieser Auserwählten-Rolle. »Bisher hat sich das mit dem Reiten immer einfach so
ergeben, entweder weil ein Tier auf mich zukam und mir irgendwie angeboten hat, mich mitzunehmen oder weil ich jemandem helfen musste.« Betreten sah Liguster zu Boden. Doch Aruna nickte erneut
und wirkte kein bisschen enttäuscht.
»Ja, das dachte ich mir schon.« Vergnügt klatschte sie in ihre knorrigen Hände, was in etwa so klang, als würde ein morsches Stück Holz auf den Boden fallen. »Dann steht euch morgen ein
aufregender Tag bevor«, sagte sie. »Packt euch Proviant für zwei Tage ein. Und dann ... dann lasst ihr euch von eurem Reisetier finden!«
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