11. Kapitel: Halt im Matsch

Fortsetzungsroman Liguster Zwingelwicht by Lilu S. Kestlinger
© Britta Stender | Wortopolis Fortsetzungsroman - Halt im Matsch

https://www.wortopolis.de/2018/04/11/10-kapitel/

https://www.wortopolis.de/2018/04/11/10-kapitel/

»Dasz iszt ein noch immer nicht gut genug!« Quanjo schüttelte unwirsch seinen Kopf
»Junge Herrin«, er wandte sich an Lori und machte ein besorgtes Gesicht, »ihr szeid szchnell und wendig, aber auch leichtszinnig. Und esz fehlt euch in viel szu vielen Szituationen an Kraft. Dasz iszt nicht gut! Nicht gut. Und du«, Quanjos Finger schnellte zu Liguster und stach ihn unsanft in die Brust. Seine Augenbrauen zogen sich zu einem widerwilligen Ausdruck zusammen. »Du biszt langszam und plump wie eine friszsch geszschlüpfte Larve. Ich habe keine Ahnung, wasz an dir beszonders szein szoll. Eigenszinnig biszt du und szonszt nichtsz.«
»Na, na, na, Quanjo.« Arunas knorrige Stimme klang ungewöhnlich sanft. Unvermittelt stand die alte Heidewichtin hinter ihm, ohne dass einer der drei ihr Kommen irgendwie bemerkt hätte. »Er ist besonders! Sehr besonders. Und genau diese Besonderheit würde ich jetzt gerne einmal testen. Seid doch bitte so freundlich  und folgt mir.«
Niemand antwortete Aruna, die sich bereits umgedreht hatte und mit einer erstaunlichen Schnelligkeit voranschritt. Allen war bewusst, dass das keine Bitte, sondern ein Befehl gewesen war. Es war ein heißer Tag. Nur ab und zu schob sich eine kleine Wolke vor die Sonne und nahm das gleißende Licht von den trockenen Gräsern und den Flechten, die den sandigen Boden bedeckten. Die Grillen zirpten, als müssten sie um ihr Leben musizieren und die Luft war schwer von der Hitze und dem Duft der Heidekräuter.
Direkt hinter Aruna humpelte Quanjo her und die unterschiedliche Schnelligkeit, mit der die Stöcke der beiden Alten auf den Sandboden trafen, ergab eine dumpfe Melodie, zu der die sich auf und ab bewegenden Köpfe zu tanzen schienen. Liguster musste bei diesem Anblick unwillkürlich grinsen. Quanjos Worte hatten ihn kein bisschen getroffen. Im Vergleich zu dem, was er im Findelheim täglich zu hören bekommen hatte, waren die fast noch schmeichelhaft gewesen. Außerdem ließ er sowieso nichts nah genug an sich heran, als dass es ihn verletzen könnte. Vielmehr als Quanjos schlechte Meinung von ihm beunruhigte ihn der unerschütterliche Glaube Arunas, er wäre der Auserwählte. Was das jetzt wohl für ein Test sein sollte, fragte sich Liguster. Und ein Teil von ihm hoffte, dass er dabei gnadenlos versagen würde, damit dieser ganze vertrollte Quatsch hier endlich aufhören konnte. Ein anderer Teil in ihm wünschte sich allerdings genau das Gegenteil. Der sehnte sich danach, besonders zu sein und mit Lori auf die Reise zu gehen. Der wollte Abenteuer und Gefahr und ein Held sein. Dass ihn alle bewunderten, liebten und feierten und er sich nicht mehr wie ein Außenseiter fühlen würde. Für diesen Teil in sich hatte Liguster jedoch nur ein verächtliches Schnauben übrig.
»Was ist?«, fragte Lori, die einen halben Schritt schräg hinter ihm ging.
Liguster zuckte mit den Achseln. »Nichts. Ich frage mich nur, was sie jetzt schon wieder von mir wollen. Als würde es nicht reichen, dass ich schwimme!«
Lori gluckste. »Lassen wir uns überraschen.«

Es dauerte lange, bis Aruna endlich stehen blieb und sich zu Quanjo, Liguster und Lori umdrehte. Ein verschmitztes Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht und sie wirkte fast aufgeregt, als sie nun hinter sich deutete.
»Wie ihr seht, sind wir am Rand der Dünenheide angelangt. Hier befindet sich eine Höhle, in der ein uralter und riesiger Hallimasch lebt.« Als Aruna die gleichzeitig erschreckten und ratlosen Gesichter ihrer Begleiter sah, lachte sie heiser auf. »Das ist ein Pilz, der sich über unterirdische Ausläufer einen unvorstellbar großen Körper bilden kann. Ich brauche ihn für viele meiner Heilmittel und stehe deswegen in einem gewissen Sinne in ... na, sagen wir in Kontakt mit ihm. Gestern nun hat mich ein Hilferuf ereilt.« Sie hielt kurz inne und musterte Liguster mit einem liebevollen Blick. Automatisch zuckte er zusammen. Er war ihm unangenehm, so angesehen zu werden und machte ihn misstrauisch. »Liguster, bitte hilf dem Hallimasch«, sagte sie.
»Wie soll ich ihm denn helfen? Und wobei überhaupt?«, fragte Liguster mürrisch.
»Schnecken«, sagte Aruna und ihre Augen funkelten vergnügt. »Oder genauer: Tigerschnegel. Sie fressen ihn auf. Und deswegen sollst du, Liguster, sie darum bitten, den Hallimasch in Ruhe zu lassen und sich einen anderen Platz mit Totholz oder Aas zu suchen.«
Lori jubelte leise. »O ja, das möchte ich gerne sehen, Li. Los, sag den Schnecken, sie sollen sich trollen.«
Quanjo, von dem Marsch sichtlich erschöpft, murmelte: »Ach, was. Wichte sind die Freunde der Pflanzen und kommen leidlich mit Bienen aus. Aber Schnecken, was soll der Irrsinn? Als würde irgendein Tier auf einen Wicht hören. Lasst uns wieder umkehren. Das hier ist doch ein dicker Haufen Troll ...«
So wenig Liguster sonst mit Quanjo einer Meinung war, aber diesmal hätte er ihm nur allzu gerne recht gegeben. Auch wenn ihm bewusst war, dass in seinem speziellen Fall eine Freundschaft mit Tieren vielleicht doch gar nicht so abwegig war. Er seufzte und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Also gut. Dann gucke ich mir diesen ›Halt-im-Matsch‹ mal an. Aber ich verspreche nichts.«
»Hallimasch«, verbesserte Aruna freundlich, »da geht’s lang.« Sie hob ihren knotigen Stock, auf den sie sich mit beiden Händen abgestützt hatte, und zeigte auf eine Ansammlung großer buschiger Farne. Liguster setzte sich zögernd in Bewegung und die drei Heidelinge folgten ihm. Je näher sie dem Waldrand kamen, umso feuchter und frischer schmeckte die Luft. Es roch nach Erde, Moos und Laub und ein leises Rauschen, Flüstern und Singen drang in seine Ohren. So wenig es Liguster geglaubt hätte, wenn irgendjemand es ihm gesagt hätte, aber er fühlte tatsächlich Heimatgefühle in sich aufsteigen. Unter den saftig grünen Wedeln der Farne befand sich ein großes Loch im Boden. Dicke Moospolster säumten den Rand, der Reste von uralten Holzfasern zeigte. Vielleicht war hier vor Ewigkeiten mal ein riesiger Baum umgestürzt, mitten hinein in eine unterirdische Höhle.
Kurz blieb Liguster am Eingang stehen. Was würde ihn dort drin gleich erwarten? Ob es gefährlich war? Ach nein, das glaubte er eigentlich nicht. Tigerschnegel gab es haufenweise im Wald und er hatte noch nie gesehen, dass die grau-schwarz gemusterten Nacktschnecken irgendeinem Wicht etwas getan hätten. Aber was war mit diesem ‚Halt-im-Matsch‘? Ob das ein guter Pilz war? Eigentlich kannte er die Tigerschnegel als Waldfreunde, die aufräumten, Aas und tote Pflanzen fraßen und sogar ihre pflanzenschädigenden Verwandten. Liguster kniff nachdenklich die Augen zusammen und eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. Nun, was auch immer ihn erwartete, er würde es kaum herausfinden, indem er hier herumstand und grübelte. Also gab er sich einen Ruck und stieg langsam in die Höhle hinab. Die Steigung war gering und so kam er schnell voran. Aruna, Quanjo und Lori folgten ihn in einigem Abstand und waren bis auf gelegentliche, missmutige Brummlaute von Quanjo vollkommen still. Je weiter sie in die Höhle vordrangen, umso dunkler wurde es. Am Eingang war durch die Farnblätter noch grünlich schummriges Licht gedrungen, aber mit jeder Minute, die sie sich vom Eingang entfernten, ließ auch die Helligkeit nach. Gerade als Liguster dachte, sich gleich durch eine vollkommene Dunkelheit tasten zu müssen, kam er an eine Kante, hinter der es bläulich schimmerte. Als er hinabschaute, verschlug es ihm für einen Moment den Atem. Es war ein unvorstellbar großer Raum, der sich unter ihm ausbreitete. Das allein beeindruckte ihn jedoch nicht so sehr, wie dieses bläulich grüne Licht, das sich in unregelmäßigen Mustern über den Boden und die Wand zog. Angestrahlt von dem dämmrigen, kalten Licht erkannte Liguster schließlich den Hallimasch und keuchte entsetzt auf.
»Honigpilze«, flüsterte er und drehte sich zu Aruna. »Ihr wollt, dass ich Honigpilze rette? Die giftige Plage der Wälder? Die großen Totmacher, Waldzerstörer, Baumvernichter?«
Arunas Gesichtsausdruck war in dem schwachen Licht nicht richtig zu erkennen. Aber ihre raue Stimme klang nach wie vor sanft, als sie antwortete.
»Ja, genau, Auserwählter, ich möchte, dass du diesen Hallimasch rettest. Und damit du nicht glaubst, dich damit an einem Verbrechen gegen den Zwingelforst zu beteiligen, versichere ich dir, dass dieser Honigpilz keine Gefahr für deinen Wald darstellt. Er ist seit Jahrhunderten in dieser Höhle und streckt seine Rizomorphen nicht über die Grenzen der Höhle hinaus aus. Er ernährt sich nur von dem toten Holz, das bereits hier ist und das wird ihm noch Jahrtausende reichen. Dieser Hallimasch ist mit dem zufrieden, was er hat. Und er gibt den Heidelingen sein Pilzmyzel, den leuchtenden Stoff, den du überall siehst, und der unserer Magie hilft. Er gibt uns Teile von sich selbst, aus denen ich magische Tränke und Heilmittel braue und er hat einen äußerst sensiblen Sinn für unsere Welt und teilt mir alle Veränderungen mit, die er wahrnimmt.«
Liguster starrte durch das schummrige Licht in Arunas Richtung und hatte die Augenbrauen so weit zusammengezogen, wie es ging. Honigpilze! War das zu fassen?! Das erste, was jeder Zwingelwicht lernte, war, dass Honigpilze die größte Bedrohung des Waldes und des Lebens waren. Mit ihren wurzelartigen Rizomorphen befielen sie vollkommen gesundes Gehölz, ja, ganze Wälder, und brachten es zum Absterben, ließen es einfach von innen heraus verfaulen. Und jetzt sollte er das alles vergessen, nur weil die gruselige Alte ihm das sagte?
»Ja, weil die gruselige Alte es dir sagt und du ihr vertrauen kannst«, sagte Aruna und Liguster zuckte erschreckt zusammen. Bei den Nimfen, wie machte sie das? Widerwillig wandte Liguster wieder seinen Blick nach vorne und forschte in der Höhle nach den Tigerschnegeln, die sich hier aufhalten sollten. In dem Augenblick nahm er aus den Augenwinkeln einige Asseln wahr und sah zu ihnen herüber. Es waren zwei große Rollasseln und einige kleine, gerade eben wichtgroße, die gerade über den Höhlenrand krabbelten. Wie auf Kommando wandten sie sich ihm auf einmal alle gleichzeitig zu. Ganz still standen sie und sahen ihn an, während er zu ihnen herüberschaute. Dann bewegten sie ihre Fühler, als würde sie ihm zuwinken oder ... sich verneigen? Ach, das war ja vollkommener Blödfug. Kurz darauf krabbelten die Asseln geschlossen auch schon wieder davon. Lächelnd schüttelte Liguster den Kopf. Was war das denn gewesen? Sei’s drum. Der Anblick der vertrauten Asseln hatte ihm gutgetan und ihm das Gefühl gegeben, er würde hier das Richtige tun. Liguster wandte sich wieder der Höhle vor sich zu und spähte durch das Dämmerlicht. Auf einmal sah er sie. Es waren drei Schnegel. Riesige Exemplare, die sich über eine Gruppe von Honigpilzen hermachten. Lange Stiele mit kleinen, glänzenden, braun-gelben Kappen. Noch niemals zuvor hatte Liguster so große Schnegel gesehen. Sie waren länger noch als eine Spitzmaus und wunderschön gemustert. Im vorderen Drittel zierten schwarze Punkte den grauen Körper. Und weiter hinten zogen sich die Punkte zu unregelmäßigen Streifen. Zögernd ging Liguster auf sie zu.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0