
Sein Name war Liguster. Er hasste diesen Namen. Liguster! Was war das nur für ein dämlicher Name! In der Sprache der Zwingelwichte hieß das soviel wie Schreihals. Toll. Wer hieß schon gerne Schreihals!? Konnte er nicht einfach einen unaufälligen Allerweltsnamen haben wie Boblom oder Rübilas? Nein, natürlich nicht. Die schönen Namen waren ja den Wichten vorbehalten, die von ihren Eltern geliebt wurden. Etwas, das bei ihm schon alleine deswegen nicht möglich war, weil er gar keine Eltern hatte. Vor fast sechzehn Jahren war er mitten in der Nacht als nacktes, vollkommen unterkühltes und wie am Spieß schreiendes Baby von zwei betrunkenen Idioten unter einem Farnblatt gefunden worden, auf halber Strecke zwischen der etwas zwielichtigen Waldspelunke "Zum Fliegenpilz" und den Toren der Stadt. Immerhin waren die Typen noch klar genug im Kopf gewesen, um ihn direkt im Findelkindheim abzugeben. Und dabei hatten sie es offensichtlich sehr lustig gefunden, steif und fest zu behaupten, er heiße Liguster. Der Trottel im Nachtdienst wiederum hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als den Namen tatsächlich in die Aufnahmepapiere zu schreiben und damit offiziell seinen Status als allgemein anerkannte Lachnummer zu besiegeln.
Liguster kickte wütend einen Kiesel zur Seite und folgte weiter der Ameisenstraße zurück zur Stadt. Wenn er zu spät zum Aufräumdienst kam, würde er wieder kein Abendessen bekommen. Auch so konnte er sich schon auf eine Strafe gefasst machen. Denn sein blaues Auge und die aufgeplatzte Lippen in seinem Gesicht belegten nur allzu deutlich, dass er sich mal wieder geprügelt hatte. Und garantiert hatten ihn die anderen Findel längst verpetzt. Dabei hatte er sich nur verteidigt. Wie immer. Als er daran dachte, dass die vier Wichte, die ihn angegriffen hatten, deutlich schlimmer aussahen als er, zog sich dennoch ein stolzes Grinsen über sein Gesicht. Niemals würde er sich von denen unterkriegen lassen, von Lysopril und seinen Schatten. Dann war er eben Liguster, der Schreihals, Liguster, der Außenseiter, Liguster, der schwierige Junge ohne Freunde. Er reckte trotzig sein Kinn nach vorne. Er wollte auch gar nicht dazu gehören. Wer brauchte schon Freunde! Abermals holte er mit dem Bein weit aus, um einen Kieselstein so weit wie möglich in den Wald zu schießen, als er sanft in den Rücken gestubst wurde. Reflexartig ballte Liguster seine Faust und schnellte herum. Doch als er erkannte, wer da vor ihm stand, entspannte er sich sofort wieder. Es war nur eine Kundschafter-Ameise, der er jetzt Aug in Aug gegenüberstand. Welche es war, wusste er nicht. Er konnte die einzelnen Ameisen nicht auseinanderhalten. Und selbst, wenn er es gekonnt hätte, hätte er sich unmöglich so viele Namen merken können. Hatten sie überhaupt Namen? Liguster runzelte nachdenklich die Stirn. Er war sich nicht einmal sicher, ob die Ameisen selbst irgendwelche Unterschiede zwischen sich machten, zumindest wenn sie zu einer Einheit gehörten. Vielleicht teilten sie sich ja sogar ein Bewusstein, als wären sie ein einziger Geist verteilt auf Abertausende von Körpern. Die Ameise tippte ihn erneut an und neigte fragend den Kopf. Normalerweise mochten die Ameisen die Zwingelwichte nicht allzu gerne und erst recht wollten sie von ihnen nicht geritten werden. Aber bei Liguster machten sie aus irgendeinem Grund eine Ausnahme. Die Ameise knickte ihre vorderen Beine ein und Liguster schwang sich lächelnd auf ihren Rücken. Dabei achtete er darauf, mit seinen Beinen nicht die seitlichen Atemlöcher am Brustpanzer der Ameise zu verdecken. Immerhin mochten ihn die Ameisen und die anderen Tiere im Wald. Wozu brauchte er schon Freunde unter den Zwingelwichten! Sobald er Sechzehn und damit volljährig war, würde er die Stadt verlassen und alleine im Wald leben. Dort würde er zwischen Asseln, Käfern, Füßlern, Ameisen und Schnecken viel weniger einsam sein als unter seinesgleichen in der Stadt. Nur noch genau 21 Tage, dann konnte er gehen, wohin er wollte. Liguster passte sich dem ruckelnden Gang der Ameise an und genoss den pfeilschnellen Ritt durch den Wald. Um ihn herum ragten die Grashalme hoch und schwankend in die Luft und dicke dunkelgrüne Polster lagerten sich um Baumwurzeln und Stämme. Weit, weit darüber formten die riesigen Bäume ein grünes Dach, durch das vereinzelte Sonnenstrahlen wie goldgelbe Glaslanzen hindurchstachen. Sie malten gelbe Kreise auf den Waldboden und ließen die Pollen, die wie riesige Fallschirme durch die Luft taumelten, geheimnisvoll funkeln. Der Wald schillerte in unzähligen Grün-, Braun- und Gelbtönen und die Luft roch frisch und klar. Nur noch 21 Tage und er konnte für immer hier draußen bleiben!
Wenige Minuten später sah Liguster die große Eiche vor sich, in der sich seine Heimatstadt Gundelfingen verbarg. Er stieg vom Rücken der Ameise, ließ sich lächelnd von ihr mit den Fühlern übers Gesicht schnuppern und tätschelte ihr freundlich den Kopf. Kurz danach trat er durch das Stadttor und ließ seinen Blick nach oben über die vielen Ebenen der Stadt schweifen. Obwohl der Baum lebendig war und seine Äste in üppig grünem Blätterkleid dem Himmel entgegenreckte, war sein hohles Innere von vielen Reihen verschiedenfarbiger Pilze bedeckt, in denen die Zwingelwichte lebten. Dazwischen zogen sich Stege und Brücken und sogar ganze Plätze durch den Baum, über die sich Hunderte von Wichten schoben und drängelten. Liguster seufzte auf und marschierte nach kurzem Zögern los.
"Liguster Zwingelwicht!" traf ihn die keifende Stimme von Malizia Gundelgroß, kaum hatte er den Sammelpunkt für den Aufräumdienst erreicht. Die Leiterin des Findelkindheims war für eine Zwingelwichtin erstaunlich groß und hatte sich daher schon früh angewöhnt, leicht gebückt zu gehen, um nicht allzu sehr aufzufallen. Sie war eine geborene Gundelgroß und gehörte damit zu den fünf mächtigen Familien der Zwingelwichte. Jede Familie regierte eine der fünf großen Waldstädte. Die Gundelgroß hatten natürlich in Gundelfingen das Sagen, die Lifflanns in Liffstadt, die Falkinwolds in Falkfels, die Weselduks in Weselin und die Solbodix in Solbixgrund. Normalweise wäre die Leitung eines Findelkindheims unter der Würde für ein Mitglied einer Herrscherfamilie gewesen. Aber Malizia Gundelgroß war einfach irgendwie... übrig geblieben. Es hatte sie niemand heiraten wollen, sie verfügte über keine besonderen Talente und ihr Charakter war ebenso unangenehm wie ihr Anblick. Und so dachte sich wohl ein besonders boshaftes Familienmitglied, dass Malizia am besten da aufgehoben wäre, wo auch die anderen Zwingelwichte landeten, die niemand wollte, im Findelkindheim. Bei dieser Entscheidung hatte das boshafte Familienmitglied ganzs bestimmt nicht an die Findelwichte gedacht, die ganz ohne Eltern und Familie aufwachsen mussten und daher eigentlich eine extra Portion an Herzlichkeit und Fürsorge gebraucht hätten. Aber es hatte ja auch nie jemand behauptet, dass man besonders nett oder weise sein musste, um mächtig zu sein.
"Liguster Zwingelwicht!", zeterte Malizia gleich noch einmal und betonte damit vor allen Leuten in Hörweite, dass er ein Wicht ohne Familie war. Denn nur die Findel trugen den Nachnamen Zwingelwicht. Liguster seufzte. Was jetzt kommen würde, war ihm nur allzu bekannt. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lysopril und seine idiotischen Freunde schadenfroh grinsten. Diese Feigwichte. Er wandte sich ihnen zu und tippte sich kurz demonstrativ auf den Arm. Dann zeigte er zu Lysopril hinüber, dessen Arm in einer Schlinge hing und formte mit seinen Lippen ein übertrieben bedauerndes stummes "Ohhhh". Lysopril funkelte ihn wütend an und Liguster verzog sein Gesicht zu einem breiten Lächeln.
"Was gibt es da zu grinsen, du missratenes Exemplar von einem Zwingelwicht! Kein Wunder, dass dich deine Eltern nicht haben wollten. Wahrscheinlich haben sie sofort geahnt, was für ein ungehobelter und ungehorsamer Wicht du werden würdest." Malizia sah ihn mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck und unverhohlener Abscheu in den Augen an. Liguster blickte starr zurück. Wenn er jetzt auch nur den kleinsten Mucks von sich gab oder sein Gesicht in irgendeiner Weise für sich sprechen ließ, würde die Strafe nur umso schlimmer ausfallen. Und einen weiteren Abend ohne Essen konnte er sich wirklich nicht erlauben, wenn er weiter in Lage sein wollte, sich zu verteidigen.
"Du bist trotz mehrfacher Verwarnung und ganz ohne Veranlassung auf deine Mitfindel losgegangen, du scheußlicher Grobian." Malizia schnaufte empört, als wären die Prellungen und Verletzungen von Lysopril und seinen Freunden ein persönlicher Affront gegen sie. "Zur Strafe wirst du im Anschluss an den Aufräumdienst in die Asselhöhlen gehen." Liguster blickte Malizia ohne Regung an. Zum Glück wusste die alte Hexe nicht, dass es ihm nicht das Geringste ausmachte, bei den Asseln zu sein und ihm auch körperliche Arbeit kaum etwas ausmachte. Hauptsache, er hatte seine Ruhe vor den anderen Findelwichten. Doch irgendwie schien sie etwas zu ahnen. Denn nach einem kurzen prüfenden Blick auf ihn, ergänzte sie in einem fast triumphierenden Tonfall: "Aber vorher wirst du alle Findel, die du so heimtückisch angegriffen hast, beim Abendessen als ihr persönlicher Mundschenk bedienen."
Liguster zuckte unwillkürlich zusammen, was Malizia mit einem befriedigten Nicken zur Kenntnis nahm. Dann teilte sie die Aufräumgruppen ein ohne ihn weiter zu beachten und wies den Gruppen die entsprechenden Ebenen zu. Wie immer wollte niemand mit Liguster zusammenarbeiten. Deswegen wurde er alleine losgeschickt und zwar wieder einmal in die unterste Ebene, wo es am Dreckigsten und Vollsten war. Seufzend nahm Liguster die Walnusskarre und schob sie durch die Wichtelmenge, um liegengebliebenen Zeitungsblätter, Essensreste und anderen Müll aufzusammeln. Ständig wurde er angerempelt, geschubst und beschimpft. Aber das kannte er schon. Er presste fest seine Zähne aufeinander, reckte sein Kinn nach vorne und konzentrierte sich fest auf die Zahl 21.
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