Sibell steht am Fenster und schaut hinaus. Der Himmel ist bedeckt, es nieselt leicht. Die Bäume stechen ihre kahlen Äste in die graue Luft. Wie schwarze Schattenbilder ragen sie vor den traurigen Wohnhäusern aus dem Boden. Sibells Herz klopft heftig und laut, ihr Atem geht flach und ihre Hände zittern leicht als sie unendlich behutsam nach dem Sprengstoffgürtel an ihrer Taille tastet.
Heute würde sie es tun. Heute würde sie ihren Beitrag in der Gemeinschaft ihrer Glaubensbrüder und -schwestern leisten. Sie würde ihre Aufgabe gut machen. Er würde stolz auf sie sein. Sibell dreht ihren Kopf ein wenig zur Seite, um auf die Uhr zu blicken. 15:40 Uhr. In zwanzig Minuten, denkt sie. Ihr Hals fühlt sich wie zugeschnürt an. Sie merkt wie sich ein dünner Schweißfilm auf ihrer Stirn bildet. Gemeinsam werden wir ein Zeichen setzen. Wir werden die Welt verändern und zu einem besseren Ort machen.
Leise und wie beschwörend murmelt sie: „Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlaget die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packet sie und belagert sie und lauert ihnen in jedem Hinterhalt auf.“
Sibell wendet sich langsam vom Fenster ab und geht ein paar Schritte in die Wohnung hinein. Sie blickt sich um. Es ist nicht ihre Wohnung. Sie hat hier nur die letzten paar Tage und Nächte bei einem Glaubensbruder und seiner Frau verbracht, hat darauf gewartet, ihre Aufgabe im heiligen Krieg zu erfüllen. Von den Nachbarn ist sie niemandem begegnet. Nur ein großer Mann mit langer, spitzer Nase hat durch einen schmalen Türspalt geschaut als sie ankam. Jetzt ist sie alleine in der kleinen Wohnung, in der sie nichts an ihr früheres Leben erinnert. Nichts außer dem Gefühl alleine zu sein. Ich bin nicht alleine, denkt sie und wischt nervös und vorsichtig ihre schweißnassen Hände am langen Rock ab. Jetzt gehöre ich zu etwas, das größer ist als ein Einzelner. Ich werde gebraucht. "Und so soll kämpfen in Allahs Weg, wer das irdische Leben verkauft für das Jenseits. Und wer da kämpft in Allahs Weg, falle er oder siege er, wahrlich dem geben wir gewaltigen Lohn."
15:50 Uhr. Noch zehn Minuten. Sibell spürt eine heftige Übelkeit in ihrem Magen. Ihr Brustkorb fühlt sich zu eng an für die Herzschläge, die in einem immer schnelleren Rhythmus gegen ihre Rippen trommeln. Bilderfetzen ziehen durch ihren Kopf. Bilder von Ihren Eltern, die sie vor über einem Jahr das letzte Mal gesehen und gesprochen hat. Doch auch vorher waren sie ihr nie wirklich nahe. Sie sieht sich alleine in ihrem Zimmer auf ihrem Bett liegen und die Decke anstarren. Stundenlang, tagelang, ihr ganzes Leben lang. Sibell erinnert sich an ihr eigenes verkrampftes Lächeln im Spiegel, starr wie die gefrorene Oberfläche eines Teiches. Sie erinnert sich an Blicke, die über sie hinwegwischen, als wäre sie gar nicht da, an Gruppen von Mädchen und Jungs, die ihr den Rücken zudrehen. Menschen, die lachen, sich verliebte Blicke zuwerfen, glücklich sind.
Es hatte sie immer wieder erstaunt, wie sehr das Glück anderer das eigene Unglück vergrößern, das Gefühl der Einsamkeit unerträglich werden lassen kann. Sibell erinnert sich an die Qual in ihrem Inneren, an die Millionen ungeweinter Tränen, die in der stickigen Leere in ihr einfach verdampft waren. Sie denkt daran zurück, wie eine Glaubensschwester eines Tages Kontakt zu ihr aufnahm und sie etwas fand, an das sie sich mit all ihrer Verzweiflung klammern konnte. Einen Sinn. Eine Gemeinschaft, die sie wollte und wenn auch nur, damit sie für sie starb.
Sibell spürt, wie die Übelkeit stärker wird. Hektisch atmet sie ein und aus, versucht ihren Brechreiz zu unterdrücken. Kälte umklammert ihr Herz. Panisch konzentriert sie sich auf ihre Anweisungen, geht den Plan durch und hält sich fest an der beschwörende Macht der Koransuren. "Und kämpfet wider sie, bis kein Bürgerkrieg mehr ist und bis alles an Allah glaubt. Siehe, Allah hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut für das Paradies erkauft. Sie sollen kämpfen in Allahs Weg und töten und getötet werden. Freut euch daher des Geschäfts, das ihr abgeschlossen habt; und das ist die große Glückseligkeit."
Sibell blickt unverwandt auf die Uhr, verfolgt zitternd jeden einzelnen Sekundenschlag.
15:59 Uhr. Noch 30 Sekunden, noch 20, noch zehn. Sibell atmet hektisch ein und aus. Fünf ... Vier ... Drei ... Zwei ... Eins ... In ihren Ohren dröhnt es wie eine Tür, die schwer und endgültig ins Schloss fällt. Für einen endlosen Moment hört Sibell auf zu atmen, erstarrt. Krachend rückt der lange dünne Zeiger eine Sekunde vor. Eine andere Sibell in ihr übernimmt die Führung, lenkt ihre Schritte mechanisch zur Wohnungstür, drückt die Klinke herunter und verlässt die Wohnung. Still und sanft schließt sich die Tür, während das Echo ihrer Schritte wie aus weiter Ferne durch das dunkle Treppenhaus hallt.
Mehr lesen?
EINSAM 4: Gruß aus den Teersümpfen
„Reiß dich mal zusammen, du Trauerkloß.“ Mit seitlich in die Hüfte gestemmten Armen und schmal zusammengekniffen, von missbilligenden Falten eingepferchten Augen sah Manja sie an. „Ich finde, du bist echt undankbar für das alles, was du hast. Du siehst gut aus, bist schlau, hast einen tollen Mann, eine süße Tochter, wohnst schön … Und trotzdem bist du nur am Jammern und Meckern.“ Manja schnaubte auf, wie ein Flusspferd, das seinen Kopf aus dem Wasser reckt und fügte etwas leiser hinzu: „Ich wünschte, ich hätte wenigstens eins davon.“
Rita sah müde zu ihr hoch. Jetzt ...
WÜTEND 1: Der Abfluss
Nichts. Da tat sich rein gar nichts. Nicht einmal der Hauch von etwas. Christiane Vohwinkel starrte auf das Wasser in dem Spülbecken. Nein, nein, nein. Das konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen. Sie versuchte mit der geballten Kraft ihrer Gedanken, das Wasser zum Abfließen zu bewegen. Ich visualisiere die Verstopfung und dann ...
Mit Figuren, die man im Roman "Ella" wiedertrifft ...
VERLIEBT 2: Ungleiche Ohren
„Da! Siehst du? Unter Beziehungsstatus steht es schwarz auf weiß: In ... einer ... Beziehung.“ Jana atmete mit einem kleinen Schluchzer tief ein und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. „Jetzt hab' ich doch null Chancen mehr. Dabei würde ich viel besser zu ihm passen als diese, diese ... Ach, guck' sie dir doch nur mal an auf diesem Foto.“
Andreas zuckte mit den Schultern. „Wieso? Die sieht doch ganz nett aus.“
„Ja, eben. NETT. Nett ... wie ...
Kommentar schreiben