Der zweite Weltkrieg aus Sicht zweier französischer Schwestern: packend, berührend, intensiv.
„Die Nachtigall“ ist ein Buch über das alltägliche Leben im besetzten Frankreich, über die französische Résistance, über Liebe, kulturelle, ethische Identität, über Angst und Mut. 2015 erschienen, war es ein großer Erfolg für die amerikanische Autorin Kristin Hannah. Verdient, denn das Buch widmet sich dem unendlich oft behandelten Thema „2. Weltkrieg“ zeitlos aktuell und liest sich trotz großer Gefühle als gänzlich unpathetisches, ernstzunehmendes Werk über Menschlichkeit.
Im Zentrum der Geschichte stehen die beiden Schwestern Rossignol, zu Deutsch ‚Nachtigall‘. Als Vianne vierzehn und ihre kleine Schwester vier ist, stirbt ihre Mutter an Krebs. Der Vater – gebrochen vom ersten Weltkrieg – fühlt sich der Vaterrolle nicht gewachsen und gibt die Mädchen fort. Tragisch für die Mädchen, deren Angst vorm Verlassenwerden und Alleinsein sich daraufhin als Thema durch ihr Leben und das Buch zieht. Vianne wird aufgefangen durch ihre erste Liebe, Antoine, und ihre beste Freundin Rachel. Ihre widerspenstige Schwester Isabelle dagegen läuft aus Klosterschulen und Internaten davon, bis sie achtzehn ist. Dann bricht der zweite Weltkrieg über Frankreich herein. Viannes Mann wird einberufen und sie bleibt mit ihrer Tochter im ländlichen Carriveau zurück. Isabelle wird zu ihr geschickt. Doch zwischen den Schwestern gibt es viele alte Wunden und Verschiedenheiten, die das Zusammenleben schwierig machen. Isabelle will die Besetzung durch die Nazis nicht akzeptieren und sucht voller Leidenschaft nach einem Weg des Widerstands. Vianne kämpft als Mutter ums Überleben und den Schutz ihrer achtjährigen Tochter. Jahr um Jahr des Krieges verschieben sich die Grenzen von dem, was man an Schrecken und Entbehrungen für möglich gehalten hat und was man bereit ist, zu tun. Die Schwestern gehen unterschiedliche Wege. Beide Wege zeigen, was Kristin Hannah im Nachwort einfach auf den Punkt bringt: „In der Liebe finden wir heraus, wer wir sein wollen, im Krieg finden wir heraus, wer wir sind. Und manchmal wollen wir womöglich gar nicht wissen, was wir alles tun würden, um zu überleben.“
Die Erzählung beginnt fünfzig Jahre nach Kriegsende, im Jahr 1995. Eine der Schwestern ist nach Amerika ausgewandert und setzt sich angesichts ihres nahen Todes mit der lange verdrängten Vergangenheit auseinander. Frauen sind so, erklärt sie ihrem Sohn. Sie erzählen keine Geschichten wie Männer. Sie machen einfach weiter. Diese Szenen der jüngeren Vergangenheit sind aus der Ich-Perspektive geschrieben und lassen einen bis zum Ende im aufregenden Zweifel, welche der Schwestern erzählt. In ihrer Verschränkung mit der Erzählung der Kriegsjahre sind die gelegentlichen, kurzen Wechsel zu den Handlungen der Buch-Gegenwart außergewöhnlich gut gelungen. Statt wie ein angestrengter Kunstgriff zur Steigerung der Spannung wirkt die Auslassung vieler Informationen (Welche Schwester erzählt? Was ist passiert?) authentisch. Und diese Authentizität beherrscht die gesamte Romanwirklichkeit, angefüllt mit sorgfältig recherchierten Details. Während die bildhaften Beschreibungen am Anfang des Rückblicks noch einen leicht übertriebenen Eindruck machen, vermittelt die Sprache mit Beginn des Kriegsschilderungen ein durchweg packendes Geschehen, das intensiv, aber nie kitschig, pathetisch oder rührselig wirkt. Inspiriert von wahren Begebenheiten erzählt Kristin Hannah von Schicksalen und Entscheidungen während des Krieges, voller Mitgefühl, Tragik und Bewunderung. Dabei sind ihre Figuren so plastisch, vielschichtig und menschlich gelungen, dass sie eine starke Anteilnahme erlauben, die immer wieder zur Selbstreflexion, zum Abgleich des realen Selbst mit der Fiktion des Romans einlädt.
„Die Nachtigall“ ist ein schonungsloses Buch, das im Unterschied zu vielen anderen Büchern über die Schrecken des Krieges, die Abgründe der Menschlichkeit nicht zur Effektheischerei missbraucht, sondern den Bick ruhig und mit anteilnehmendem Interesse auf die unangenehmen Seiten des Menschseins richtet. Das führt zu einer Auseinandersetzung mit Identität auf vielen Ebenen. Wer bin ich? Welche Bedeutung hat ein Name? Was bin ich bereit, für das ‚Richtige‘ zu opfern? Diese Fragen sind so elementarer Natur, das man sie aus dem Buch mit in das Jetzt nimmt und bewahrt. Das macht den Ausflug in die Geschichte zu einer nachhaltigen Lektion, die umso stärker wirkt, als dass die Ereignisse ganz für sich selbst sprechen, ohne jede schulmeisterlich belehrende Note. Diese Wirkung wird verstärkt durch die zwei so verschiedenen Hauptfiguren. Sie schaffen eine Bandbreite vom alltäglichsten Lebensentwurf und ängstlich-unselbstständigem Naturell bis hin zu selten mutiger Außergewöhnlichkeit. Irgendwo auf dieser Skala erkennt man sich selbst wieder und findet dadurch Zugang zu einer Zeit, die nur allzu leicht endlos weit entfernt scheint.
Fazit: „Die Nachtigall“ öffnet den Blick für die Auseinandersetzung mit sich selbst im Angesicht erschreckender Gefahren und zeigt den zweiten Weltkrieg aus einer unbedingt lesenswerten, berührenden Perspektive.
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