VERLIEBT 5: Valentinstag (Bonuskapitel "Ella")

Wortopolis Kurzgeschichte by Edda Keyser
© Britta Stender | Wortopolis Kurzgeschichten

Ella schlug die Augen auf und hatte einen Gedanken: Mist! Heute ist Valentinstag. Kurz blieb sie stocksteif im Bett liegen, dann drehte sie sich zur Seite und sah durch das Fenster in den Himmel. Es war nicht mehr richtig dunkel. Die ersten Ausläufer der frühmorgendlichen Helligkeit überzogen das Nachtblau bereits mit einem fahlen Schimmer. In einer Stunde würde der Himmel in diesem typischen Februar-Hellblau seine winterliche Pastellstimmung verbreiten, die kahlen Äste der Bäume als trister Schattenriss davor. Warum haben die den Valentinstag in den Februar gelegt, fragte sich Ella und seufzte leise. Es war kalt und ungemütlich draußen. Und sie jedenfalls fand kalt und ungemütlich nicht besonders romantisch. Ella starrte durch das Fenster und runzelte die Stirn. Sie hatte keine Idee, wie sie Martin überraschen sollte. Legte er da überhaupt Wert drauf? Oder fand er diesen ganzen Valentinszirkus albern, kitschig und kommerziell. Und was war mit Fjonn? Sie hatte keine Ahnung, ob es angebracht war, ihrem Ex ihren traditionellen Valentins-Gruß zu überreichen. Es war keine große Sache während ihrer Ehe gewesen, aber ein kleines, hübsches, lustiges Ritual. Jeder von ihnen hatte jedes Jahr aufs Neue versucht, die kitischigste Karte der Welt zu finden. Am Abend erfolgte beim gemeinsamen Abendessen der gegenseitige Austausch, jeweils zusammen mit einer einzelnen roten Rose. Neidlos hatte dann meist Ella Fjonn zum König aller schmalzigen und stillosen Karten erklärt. Sie hatte keine Ahnung, wo er diese Karten immer auftrieb. Vielleicht machte er sie auch selbst und ließ sie von seinem Kontakt bei der Druckerei als kleine Gefälligkeit drucken. Zuzutrauen wäre es ihm. Sollte sie dieses Jahr wieder eine Kitsch-Karte suchen, als ob nichts gewesen wäre? Aber man schenkte seinem Ex doch nichts zum Valentinstag, oder? Sie wollte nicht in der Wunde bohren, hatte aber das Gefühl, das würde sie ohnehin tun, egal, wie sie sich verhielt. Sie wusste, dass Fjonn heute an den Valentinstag denken würde. Er würde an all ihre früheren gemeinsamen Valentinstage denken. Und er würde traurig sein. Konnte sie das nicht irgendwie abmildern? Eine weiße Rose schenken? Oder eine ganz andere Blume? Und gab es eine kitschige Karte für Ex-Männer, die sagte: Ich habe dich betrogen und alles kaputt gemacht, aber lass uns trotzdem Freunde bleiben, weil du der Vater meiner Kinder und einer der wichtigsten Menschen im meinem Leben bist? Fände er das witzig oder geschmacklos? Ach, alles, was sie ändern würde an dem ursprünglichen Ritual würde nur allzu deutlich betonen, dass ihre heile Familie nicht mehr heil war. Und ihre Jungs? Überall würden heute Herzen herumfliegen, Lovesongs gespielt und von Liebe gesprochen werden und das, wo ihre Mutter gerade ausgezogen war, weil sie sich in einen anderen verliebt hatte. Furchtbar! Ella zog sich das Kissen über den Kopf.

„Ich hasse den Valentinstag“, murmelte sie dumpf in den Stoff und beschloss, nie wieder aufzustehen. In dem Moment klopfte es an der Wohnungstür. Martin! Schnell strampelte Ella die Decke von sich und huschte auf ihren dicken Schlafsocken zur Tür. Kurz fuhr sich mit ihren Fingern ordnend durch die Haare, kniff sich leicht in die Wangen und öffnete.

„Ich liebe den Valentinstag“, flüsterte sie kaum hörbar als sie Martin vor sich sah, mit funkelnden Augen, eine flammendrote Tulpe zwischen die Zähne geklemmt, den dunklen Haarsträhnen tief in der Stirn, zwei Bechern Kaffee in der Hand und mit nichts weiter als einer Pyjamahose bekleidet. Er war von seiner Wohnung im ersten Stock zu ihrer im dritten Stock tatsächlich so durchs Treppenhaus gegangen? Ella biss sich auf die Unterlippe und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Im Geiste sah sie Frau Meier fast in ihren Türspion hineinkriechen. Die alte Dame hatte sowieso eine Schwäche für Martin, litt an Schlaflosigkeit und schien sich in ihrer Wohnung fast ausschließlich unmittelbar hinter der Wohnungstür aufzuhalten. Mit diesem freizügigen Auftritt hatte Martin ihr bestimmt einen unvergesslichen Valentinstag beschert.

„Guten Morgen“, sagte sie, zog ihn in die Wohnung, nahm ihm die Tulpe ab und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben.

„Warte, warte, der Kaffee!“ Suchend sah Martin sich um und ging dann einen Schritt zur Seite, um die vollen Becher vorsichtig auf dem schmalen Sideboard im Flur abzustellen. „So, jetzt …“ sagte er und der Rest des Satzes ging in dem Kuss unter, der einmal angefangen nie wieder zu enden scheinen wollte. Langsam wechselte der Himmel vom ersten Graublau des Tages in ein lichtes, helles Blau und die kleinen Schäfchenwolken am Himmel erblühten in einem lodernden Orange-Gelb. Als der Kuss dann doch ein Ende fand, war der Kaffee kalt und Martin sprang erschrocken auf.

„Wie spät ist es? Das kann doch nicht wahr sein. Ich komme zu spät!“ Ella grinste und räkelte sich im Bett. „Hab‘ einen schönen Tag!“, rief sie ihm zu, als er die Wohnungstür aufriss und gerade hinausstürmen wollte. Da hielt er inne und warf ihr einen derart liebevollen Blick zu, dass ihr vor lauter Gefühl fast schwindelig wurde .

„Ich liebe dich“, sagte er nur. Dann war er weg und die Wohnungstür fiel hinter ihm klickend ins Schloss. Ella lag da wie erstarrt und lauschte dem Klang der Worte. Die Welle Glück, die sie eben noch hoch auf ihren Schaumkronen getragen hatte, war klatschend in sich zusammengefallen und hatte sie auf dem harten Boden des Schuldgefühls aufprallen lassen. Das war alles nicht fair. Sie durfte doch nicht einfach so glücklich sein, während sie genau wusste, wie unglücklich ihre Söhne und ihr Mann waren. Wegen ihr. Nein, sie hatte kein Glück verdient. „Ich hasse den Valentinstag“, sagte sie leise und zog sich erneut die Decke über den Kopf.

 

Später an diesem Tag saß sie vor ihrem Computer und arbeitete an einem Entwurf für eine Visitenkarte, die ein freiberuflicher Texter bei ihr in Auftrag gegeben hatte. Und auf einmal, ohne dass sie es bewusst beschlossen hatte, legte sie eine neue Datei in Postkartenformat an. Wie mechanisch suchte sie nach passsenden Stockfotos, skizzierte mit der Hand einige Formen, scannte sie ein, arrangierte, färbte, passte an. Schließlich hatte sie eine Karte mit einer übertrieben lachenden Werbefamilie, deren Zähne sie extra geweißt hatte, mit glitzernden Sonnenstrahlen, herumfliegenden Blütenpollen und einem extrem hohen Gelb-Anteil. Quer darüber verlief ein Spruch in verschnörkelter Schrift, der besagte, dass Familie wie ein Baum sei, dessen Äste in verschiedene Richtungen wachsen, die Wurzeln aber immer zusammenhalten würden. Zögernd schlich sich eine Träne ihre Wange hinunter und Ella schluckte trocken. Sie überlegte kurz und druckte die Karte dann auf dickem Fotokarton aus. Anschließend schrieb sie auf die Rückseite in geschwungenen Buchstaben: Gleiches Ritual, neuer Inhalt?

 

Mittags fuhr Ella in das Haus und heftete die Karte mit einem Magneten an den Kühlschrank. Dann kochte sie Mittagessen. Kurz darauf kamen Nils und Lasse nach Hause. Lasse verschwand – wie jeden Tag seit Ellas Auszug – grußlos nach oben. Nils schaute wenigstens einmal kurz in der Küche herein.

„Hallo Schatz, wie war es in der Schule?“, fragte Ella.

„Hey, Ma“, antwortete Nils und ließ den Blick über den Herd wandern. „Ich glaub‘, wir haben heute nicht so einen Hunger. Du kannst das Essen ja in den Kühlschrank stellen. Für später.“ Er drehte sich um und wollte ebenfalls in das Zimmer der Jungs verschwinden, zögerte dann jedoch. Ella schwieg beklommen. „Ma, sei bitte nicht böse, ja?“ Nils hatte ihr den Rücken zugedreht und sah auf den Boden. „Aber ich glaube, es wäre besser, wenn du heute nicht hier wärst. Wir hatten heute in der Schule lauter Valentinstags-Aktionen und das war irgendwie … ganz schön scheiße. Pa hat gesagt, er kommt heute früher und wir sind echt alt genug, um mal ein paar Stunden allein im Haus zu sein …“ Mit gesenktem Kopf und ohne Abschiedsgruß oder ähnliches ging Nils weiter und war kurz darauf aus Ellas Sichtfeld verschwunden.

Ella war äußerlich ganz ruhig, aber in ihr tobten die Gefühle. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Ihre Söhne so unglücklich zu sehen und dann auch noch zu wissen, dass sie daran schuld war, zerriss sie innerlich in lauter kleine Fetzen. Ihr Herz raste und ihr war so übel, dass sie Angst hatte, sich übergeben zu müssen. Langsam ging sie zu dem Kühlschrank und nahm die Karte ab. Es war noch zu früh für so etwas. Sie musste ihnen Zeit geben. Vielleicht im nächsten Jahr. Dann verstaute sie das Essen im Kühlschrank, räumte die Küche auf und verließ das Haus. Nils hatte recht. Sie waren wirklich alt genug. Als sie zu ihrer Wohnung kam, war sie ganz und gar in trübe Gedanken versunken. Lasse hasste sie, Nils brauchte Abstand und mit Fjonn, ihrem Anker, bestem Freund und absolut vorbildlichem Ehemann in all den Jahren hatte sie seit dem Auszug kein Wort mehr gewechselt. Das Gefühl des Verlustes zog schwer an ihr und hüllte sie ein wie in ein schwarzes Tuch. Mühsam schleppte sie sich die Treppen nach oben und blickte dabei unentwegt auf die Stufen unter sich. Dann – als sie die die Wohnungstür aufschließen wollte und den Kopf hob – sah sie etwas Farbiges an ihrer Tür. Rote Tulpen waren rund um den Spion in Herzform an die Tür geklebt. An die Tür geklebt! Mit Klebeband! Irgendetwas in Ella fand das witzig und das riss einen Spalt in ihre trübe Stimmung. Versonnen musterte sie das Tulpenherz. Kurz darauf hörte sie hinter sich Schritte auf der Treppe und wurde plötzlich in eine feste Umarmung gezogen. Ella schloss die Augen, atmete tief Martins unverkennbaren Geruch ein und schmiegte sich eng an ihn. Auf einmal konnte zumindest ein winzig kleiner Teil in ihr wieder daran glauben, dass irgendwann alles gut werden würde. Und als Martin dann noch leise an ihrem Ohr anfing Love me tender von Elvis Presley zu singen, ohne auch nur einen einzigen Ton zu treffen, musste sie dort, im Treppenhaus vor ihrer Wohnungstür, weit weg von ihrer Familie, sogar laut lachen. Und das, obwohl sie den Valentinstag seit heute offiziell hasste.


Mehr lesen?

Wortopolis Kurzgeschichte by Britta Stender

VERSÖHNT 2: Ein Flüstern in der Stille

Im Schloss der Eingangstür dreht sich ein Schlüssel. Kater Miro hebt den Kopf und springt von seinem Kratzbaum herunter. Geschmeidig schreitet er durch den Flur auf die Tür zu, die sich jetzt langsam öffnet und maunzt. Ein Fuß schiebt sich langsam durch den Türspalt, eine Hand streckt sich hindurch und krault über Miros Kopf. In Zeitlupentempo folgt der Rest des Körpers, lange Männerbeine in alten Jeans, ein stämmiger Oberkörper in kariertem Flanellhemd und Lederjacke. Witternd vorgestreckt die kräftige Nase im unrasierten Gesicht, zottelige braune Haare, eine strenge Falte zwischen den Augenbrauen schieben sich Stück für Stück in ...


Wortopolis Kurzgeschichte über Depressionen

EINSAM 4: Gruß aus den Teersümpfen

„Reiß dich mal zusammen, du Trauerkloß.“ Mit seitlich in die Hüfte gestemmten Armen und schmal zusammengekniffen, von missbilligenden Falten eingepferchten Augen sah Manja sie an. „Ich finde, du bist echt undankbar für das alles, was du hast. Du siehst gut aus, bist schlau, hast einen tollen Mann, eine süße Tochter, wohnst schön … Und trotzdem bist du nur am Jammern und Meckern.“ Manja schnaubte auf, wie ein Flusspferd, das seinen Kopf aus dem Wasser reckt und fügte etwas leiser hinzu: „Ich wünschte, ich hätte wenigstens eins davon.“

 

Rita sah müde zu ihr hoch. Jetzt ...


Wortopolis Kurzgeschichte by Edda Keyser

... mit Figuren, die man aus 'Ella' kennt ...

VERLIEBT 2: Ungleiche Ohren

Ungleiche Ohren

„Da! Siehst du? Unter Beziehungsstatus steht es schwarz auf weiß: In ... einer ... Beziehung.“ Jana atmete mit einem kleinen Schluchzer tief ein und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. „Jetzt hab' ich doch null Chancen mehr. Dabei würde ich viel besser zu ihm passen als diese, diese ... Ach, guck' sie dir doch nur mal an auf diesem Foto.“

Andreas zuckte mit den Schultern. „Wieso? Die sieht doch ganz nett aus.“

„Ja, eben. NETT. Nett ... wie ...


Kommentar schreiben

Kommentare: 0