
Mit ihren acht Beinen hatte Baldi die zwei jungen Wichte wie der Wind zurück nach Solbixgrund gebracht. Loris Augen waren die ganze Zeit über geschlossen geblieben und Liguster hatte an seiner
Brust gefühlt, wie sehr sie unaufhörlich gezittert hatte. Als sie am Heidehügel ankamen, reagierten auch die anderen Heidelinge nicht sehr begeistert auf Baldi. Zwar kreischten sie nicht oder
fielen in Ohnmacht wie Lori, aber sie hielten einen auffällig großen Abstand und tuschelten aufgeregt miteinander. Einzig Aruna hatte sich näher an Baldi herangewagt und ihr für einen kurzen
Moment die Hand auf den Kopf gelegt.
»So seid ihr also komplett«, hatte sie mit ihrer knarrenden Stimme gesagt und die drei mit einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck gemustert. »Dann solltet ihre keine weitere Zeit vergeuden und
gleich morgen aufbrechen.«
Das war nun bereits eine Woche her. In Windeseile hatten zwei alte Heidelinge eine Art Geschirr für Baldi angefertigt. Mit deutlichem Widerwillen im Gesicht und unaufhörlich vor sich hinmurmelnd
hatten die zwei grauhaarigen Brüder die Spinne vermessen, Schnüre um sie geschlungen, Pflanzenfasern verwoben, verknotet und vernäht und über Nacht ein maßgeschneidertes Reitgeschirr für sie
gefertigt.
Liguster ließt den Blick über die Konstruktion gleiten und drückte sich behaglich seufzend noch tiefer in das weiche Polster seines Sitzes. Direkt hinter ihm befand sich Lori in ebenso einem Sitz
und Liguster war mehr als zufrieden, dass er sie weder die ganze Zeit im Arm halten noch an ihrem duftenden Haar riechen oder sie ansehen musste. Um sie herum waren zahlreiche Taschen mit
Proviant, Blattrollen und praktischen Dingen wie Bechern, Stricken, Messern und anderem befestigt, und es gab ein raffinierteres System, mit dem sie sich sichern konnten, sollte der Wind günstig
für eine Windreise stehen. Wenn es nach ihm ginge, könnte es ewig so weitergehen: auf Baldis Rücken die Welt erkunden, ohne sich dabei groß anstrengen zu müssen. Die Sonne schien auf sie
herunter, in der Ferne hörte er aus dem Zwingelforst einen Eichelhäher schreien. Das trockene Gras der Dünenheide knisterte im leichten Luftzug und im Heidekraut tummelten sich summend unzählige
Bienen. Doch dann dachte Liguster mit einem unangenehmen Schauder an die Prophezeiung und dass von ›ewig‹ keine Rede sein konnte, sollte die Prophezeiung Recht behalten.
Vor ihrer Abreise hatten Lori und Liguster jeder für sich von Solbixgrund Abschied genommen. Was Lori gemacht hatte, wusste Liguster nicht. Er nahm an, sie war im Kreis ihrer Familie gewesen. Er
selbst war noch lange durch die gelb bemoosten Straßen des magischen Ortes gewandert, durch die Arkaden und über zierliche Brücken, vorbei an der Bibliothek und unzählige Treppen hinauf und
hinunter. Heidelinge, die ihm entgegenkamen, hatten ihm ernst zugenickt, auf die Schulter geklopft oder ihm die Hand geschüttelt. Immer wieder hatte er den traditionellen Abschiedsgruß Elaū
keleñadí gehört, den es auch hier zu geben schien. Ein kleines Wichtmädchen hatte sich für kurze Zeit an sein Bein geklammert und geweint, bis es von seiner Mutter und verlegenen Entschuldigungen
fortgezerrt wurde. Und einmal war sogar aus einer Traube von jungen Wichtinnen eine Heidelingin zu ihm hingeschubst worden, die kurz wie erstarrt stehen geblieben war, ihm dann einen
ungeschickten Kuss auf die Wange gedrückt hatte und aufschluchzend davon gerannt war, gefolgt von ihren kichernden Freundinnen. Den größten Teil der Nacht aber hatte er in einer abgelegenen, von
Firnblumen überwucherten Nische verbracht. Dort hatte er lange gesessen, sich von den Blumen sanft streicheln lassen und sich seine Zweifel und Sorgen von der Seele geredet. Die letzten Stunden
vor dem Morgengrauen hatte er dann in seiner kleinen Kammer auf dem Bett gelegen, die Arme unter dem Kopf verschränkt und auf das seltsame Gefühl in seiner Brust gelauscht, das man wohl
Abschiedsschmerz nennt.
Am nächsten Morgen stand Baldi bereit, sichtlich aufgeregt und stolz auf ihre einzigartige Ausrüstung. Aruna und Quanjo waren dort, das Herrscherpaar, Loris Schwestern und hinter ihnen so wie es
für Liguster aussah, das ganze Volk der Heidelinge. Dennoch war es so still, als hätte die Große Mutter alle Geräusche der Welt eingefangen und weggeschlossen. Schweigend nickte Aruna ihnen zu.
Liguster sprang mit Lori an der Hand hoch auf Baldis Rücken und rutschte auf den dort befestigten Sitz.
»Elaū keleñadí«, rauschte es dann wie eine Welle über die Köpfe der Heidelinge hinweg. »Elaū keleñadí«, sagten Aruna mit ernstem Blick, Quanjo mit sorgenzerfurchter Stirn und Loris Eltern mit
einem verdächtigen Glitzern in den Augen. Liguster hatte den Blick schnell abgewandt, Baldi sanft auf den Panzer getätschelt und die Spinne war in dem eigenartigen Rhythmus ihrer acht Beine
losmarschiert.
»Ist Baldi eigentlich überhaupt noch auf dem richtigen Weg?«, hörte er Lori hinter sich missmutig fragen. Anders als er genoss sie den Ritt auf der Spinne ganz und gar nicht, auch wenn sie ihre
Anspannung und Abscheu gegenüber Baldi von Tag zu Tag weniger zeigte. Liguster zuckte mit den Schultern.
»Ich denke schon«, sagte er und beugte sich zur Seite, um eine Blattrolle aus einer der Samenkapseln am Reitgeschirr zu ziehen. Es war die Karte, die er zum Abschied aus Gundelfingen in der
mysteriösen Krötentasche gefunden hatte. Gemeinsam mit Aruna und dem Wissen der Heidelinge und Bienen hatte er sie so gut wie möglich ergänzt. Jetzt fuhr er mit dem Finger die abgesprochene Route
entlang und prüfte den Sonnenstand und Schattenwurf um sie herum. Die Sonne war schon im Sinken und warf die Schatten der Gräser schräg links hinter sie. So sollte es sein. Der Rosensee lag
nordwestlich von der Dünenheide, die Richtung stimmte also. Er wandte den Kopf nach links und atmete tief die Luft ein, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Düfte. Er roch den
sandigen, leicht sauren Boden, auf dem die Heide gedieh, den würzigen Duft von Wacholder, die Süße von Birkensaft und den Geruch trockener Gräser. Anschließend schnupperte er nach rechts, während
er auf Baldis Rücken sanft hin und her schaukelte. Ja, von dort wehte sein Heimatgeruch zu ihm. Gute, fruchtbare Walderde, feucht und dunkel. Er roch moderndes Laub und Pilze, Baumharz und
saftiges Moos. Liguster drehte sich auf seinem Sitz um und sah in Loris mürrisches Gesicht, das nur schlecht ihr Unbehagen verbarg. Er unterdrückte ein Grinsen. Zwar fand er es irgendwie lustig,
dass ihr die Wahl des Reittiers so zu schaffen machte, andererseits tat es ihm leid und ihm fehlte Loris übersprudelnde Fröhlichkeit.
»Die Himmelsrichtung stimmt«, sagte er zu ihr und bemühte sich um ein freundliches Lächeln. »Aber ich rieche noch nichts Unbekanntes. Aruna hat mir Duftproben von Schilf und Uferschlamm,
Seewasser und Wasser-Schierling gezeigt. Davon liegt noch nicht die geringste Spur in der Luft. Es dauert also wohl noch, bis wir den Rosensee erreichen.«
Loris Mundwinkel schienen noch eine Spur tiefer hinabzusinken und sie seufzte leise.
»Wie lange wollen wir denn heute noch weiter?«, fragte sie dann und fügte erklärend hinzu: »Ich bin schon ziemlich müde.«
Wohl eher ›spinnenmüde‹ dachte Liguster und hatte erneut Mühe, nicht zu grinsen.
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Ich frag mal Baldi.« Liguster drehte sich wieder nach vorne und legte seine Hand sachte auf den Spinnenpanzer. Er wusste nicht genau, wie es funktionierte, aber er
konnte sich über die Berührung mit Baldi verständigen. Nicht in Worten oder Bildern. Es war eher so, dass er Gefühle empfangen konnte. Andersherum verstand Baldi ihn auch ganz ohne Berührung –
jedenfalls kam es Liguster so vor. Kurze Zeit später drehte er sich wieder zu Lori um.
»Baldi ist noch fit. Wir können als bis zur Dämmerung weiterreiten.« Als Lori daraufhin die Lippen fest zusammenpresste, ergänzte Liguster mit einem aufmunternden Lächeln: »Sieh es doch mal so:
Je weiter wir heute noch kommen, umso schneller sind wir am Ziel. Und bis dahin konzentrier dich einfach auf die Umgebung. Du hast mir doch erzählt, dass du die Welt entdecken willst. Das tun wir
jetzt gerade: Wir reisen und sehen jeden Tag Neues. Ist das nicht genau das, was du wolltest?«
»Aber nicht so«, zischte Lori zwischen ihren Lippen hervor.
Liguster spürte einen Stich der Traurigkeit durch Baldi fahren und fuhr Lori ärgerlich an: »Sei nicht so fies zu Baldi! Hat sie dir irgendwas getan? Bringt sie uns bisher nicht schnell und sicher
voran? Hast du nicht jede Nacht bequem und gut geschützt unter ihrem Netz geschlafen?«
»Ja, ja, ja«, gab Lori fauchend zurück. »Ich würde das hier ja gerne genießen und alles ganz purpur finden. Ich habe mich nicht entschieden, Angst vor Spinnen zu haben. Das ist einfach so. Und da
ist kein vertrollter Hebel in mir, den ich umlegen kann, um das zu ändern. Beim heiligen Heidehügel, so habe ich mir das auch nicht vorgestellt. Ich reiße mich ja schon zusammen, so gut es geht.«
Lori atmete einige Mal tief durch und schüttelte entnervt den Kopf. »Und natürlich weiß ich das sehr zu schätzen, dass Baldi uns Schlafzelte webt und uns den ganzen Tag lang trägt.«
Lori und Liguster sahen sich eine Zeitlang stumm an.
»Vielen Dank, Baldi«, sagte Lori dann auf einmal laut und verzog ihren Mund zu einem gequälten Lächeln.
Liguster legte eine Hand auf Baldis Panzer und meldete: »Sie freut sich. Danke.«
Schließlich berührte der Sonnenball den Rand der Welt und eine Flut von rotem Licht ergoss sich über die Landschaft. Der trillernde, zwitschernde Gesang einer männlichen Amsel drang aus den
Tiefen des Waldes zu ihnen und ein Knacken und Rauschen als würde sich der Zwingelforst auf die beginnende Nacht vorbereiten.
Liguster tätschelte sanft Baldis Rücken. Die Spinne blieb stehen und wartete geduldig, bis Lori und Liguster abgestiegen waren. Dann begann sie - noch mit dem Geschirr auf dem Rücken – eifrig
damit, eine Schlafhöhle zu spinnen. Hin und her flitzte die Spinne auf ihren langen Beinen und mit dem dunklen Flammenmuster auf dem weißen Hinterleib. Lori reckte die Arme weiter über den Kopf,
legte den Kopf in den Nacken und wiegte sich unter ächzenden und stöhnen Geräuschen hin und her.
»Wer hätte gedacht, dass es so anstrengend sein kann, den ganzen Tag zu sitzen«, sagte Lori lachend. Kaum saß sie nicht mehr oben auf der Spinne, schien sie ihre normale Fröhlichkeit
wiedergefunden zu haben.
»Ja, haha«, antwortete Liguster wenig originell und versuchte energisch seinen Blick von Lori abzuwenden, die ihre schlanke Gestalt im roten Sonnenlicht hin- und herbog und dabei zu funkeln und
zu glitzern schien, als hätte die Große Mutter sie mit einem Zauber umwoben. Liguster räusperte sich.
»Baldi, sollen wir dir nicht erst einmal das Geschirr abnehmen«, wandte er sich an die Spinne, die schon fast fertig war und gleich als Nächstes weiter oben ein Netz für den Beutefang weben würde
wie Liguster wusste. Baldi wandte ihm den Kopf zu und hielt dann plötzlich wie erstarrt inne. Auch Liguster hatte etwas gespürt. Etwas näherte sich, das deutlich größer war als sie. Er tauschte
einen schnellen Blick mit Lori, die ebenfalls innehielt und sich wachsam umsah. Liguster spürte ein kaum wahrnehmbares Vibrieren im Boden, hörte ein leichtes Rascheln und plötzlich brach ein
riesiger schwarzer Kopf zwischen den dürren Grashalmen hervor. Auch ohne eine Hand auf Baldi zu legen, konnte er ihre panische Angst spüren.
»Lori, schnell«, rief er und stürmte auf Baldi zu, während der schwarze Käfer, der mehr als dreimal so groß wie die Spinne war, blitzschnell auf sie zuschoss.
»Das ist ein schwarzer Moderkäfer«, schrie Liguster, packte Lori bei der Hand, sprang ab und riss sie mit nach oben auf Baldis Rücken.
»Moderkäfer fressen Spinnen«, keuchte er und hielt sich mit einer Hand an den Gurten auf Baldis Rücken fest, während er mit dem anderen Arm Lori auf ihren Sitz half. Baldi kletterte aufgeregt
einen Halm hinauf und die beiden Wichte hatten Mühe, nicht hinunterzufallen. Der schwarze Käfer hatte einen langen schmalen Körper, den er schlangenähnlich hin und her warf. Er bewegte sich auf
seinen sechs kräftigen Beinen rasendschnell vorwärts und schnappte mit seinen Mandibeln nach Baldis Beinen. Nur knapp verfehlte er sie und bäumte sich zu einem zweiten Versuch auf. Ligusters Herz
hämmerte in seiner Brust in einem wilden Trommelrhythmus und seine Gedanken überschlugen sich. Was konnte er tun? Doch noch bevor ihm eine Idee kam, hatte Lori sich zur Seite gebeugt und aus
einer Halterung einen kurzen Stab gezogen, eine Erfindung der beiden alten kauzigen Heidelinge. Schon wieder schnappte der Moderkäfer nach Baldi und die jungen Wichte wurden auf Baldis zitterndem
Körper wild herumgeschleudert. Trotzdem schaffte es Lori, den Stab durch einen schleudernde Bewegung auf seine vielfache Länge auszufahren. Mutig stieß Lori, Fünfte aus dem Herrscherhause der
Bixgrunds, den Stab in Richtung des gewaltigen Käfers und erwischte ihn an dessen Unterseite. Der Moderkäfer warf sich herum. Kaum war er mit allen sechs Beinen wieder auf dem Boden, reckte er
seinen Hinterleib hoch und bog ihn weit nach vorne. Lori riss die Augen auf. Der Käfer sah aus, als würde er sie wie ein Skorpion stechen und vergiften wollen. Die Mandibeln gespreizt, schoss er
zu einem erneuten Angriff auf sie zu und feuerte dabei eine stinkende Flüssigkeit auf sie ab. Baldi sprang geschickt zur Seite und wuselte im Rekordtempo zur Halmspitze empor. Dort streckte sie
ihren Hinterleib in die Luft, sodass Liguster und Lori Richtung Boden schauten und sich mit aller Kraft festhalten mussten.
»Leg die Gurte an«, schaffte Liguster gerade noch zu rufen, bevor Baldi einen langen Faden in den Himmel schleuderte. Der Moderkäfer warf sich gegen den Halm und brachte ihn gefährlich zum
Schwanken. Ein- zweimal mehr und der Halm würde knicken. Liguster stand der kalte Schweiß auf der Stirn, als er in dem großen Käfer direkt zwischen die Mandibeln in sein gefräßiges Maul blickte.
Mit zitternden Händen zog er den Gurt fest und versuchte über die Schulter hinweg zu erkennen, ob auch Lori gesichert war.
»Fertig«, schrie sie in desem Moment und als hätte die Große Mutter nur darauf gewartet, schickte sie in der Sekunde einen kräftigen Windzug, der Baldis Faden ergriff und alle drei mit sich nach
oben in die Lüfte trug.
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