VERSÖHNT 1: Der Brief

Wortopolis Kurzgeschichte by Britta Stender
© Britta Stender | Wortopolis Kurzgeschichten | Der Brief

Elenor sah auf den Brief in ihren Händen als glaube sie nicht wirklich, dass er zwischen ihren Fingern lag. Ihre Stirn war zerfurcht und der Blick aus ihren blassgrauen Augen misstrauisch und ängstlich. Unsicher glitten ihre Augen über das dicht in blauer Farbe beschriebene Papier, über die kantigen, weit nach links gebeugten Buchstaben, die aussahen, als würden sie sich nur mit Mühe aufrecht halten. Als würde ein kurzes Zittern ihrer Hände genügen, um die Buchstaben zu Fall zu bringen. Ihre Hände, fleckig und schrumpelig wie die Haut eines vergessenen Apfels, zitterten immer, heute – mit dem Brief zwischen den Fingern – heftiger als sonst. Doch die Buchstaben blieben stehen, wie trotzig entschlossen, ihre Aufgabe zu erfüllen.

 

Irgendwann ließ Elenor den Brief langsam sinken und strich sich mit einer Hand unsicher durch ihr kurzes, lockiges Haar, das mit dem Verlust ihrer honigbraunen Farbe drahtig geworden war. Ein rasselnder Seufzer entrang sich ihrer Brust und die plötzliche Flut von Erinnerungen zog sich in dünnen, glitzernden Rinnsalen durch die Furchen ihres Gesichts. Nach so vielen Jahren. Es kam ihr so lange vor, dass sie von dem Urheber der linksgeneigten Buchstaben nichts mehr gehört hatte, dass sie in ihrem löchrigen Verstand manches Mal an seiner kompletten Existenz zweifelte. Ja, es gab Momente, da hatte sie den Eindruck, sich ihre gesamte Mutterschaft nur einzubilden. Da kam ihr das pausbäckige kleine Gesicht vor ihrem inneren Auge genauso unwirklich vor wie dessen erwachsene, zornige Variante.

 

Ein gutaussehender Mann war ihr Sohn geworden. Sie war stolz auf ihn gewesen und hatte gerne Fotos von ihm herumgezeigt, hatte erzählt, dass er Doktor war und wichtige Arbeit in der Forschung leiste. Ja, das hatte sie gerne getan, sehr gerne … Und dann war SIE gekommen und hatte alles kaputt gemacht. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, war nicht vorbei gekommen, hatte nicht angerufen. Wegen IHR. Es waren immer häufiger böse Worte gefallen und irgendwann hatte ihn Elenor vor die Wahl gestellt. Nie im Traum hätte sie daran gedacht, dass er sich gegen seine eigene Mutter entscheiden könnte. Sie hatte es doch nur gut gemeint. Eine Frau, die einen so von der eigenen Familie fernhielt, konnte doch nicht die richtige Partnerin sein. Dünn war er außerdem geworden seit er mit IHR zusammen war. Und immer unterwegs. Dabei kannte er das doch so gar nicht von zu Hause. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum er sich eine Frau gesucht hatte, die so komplett anders war als sie. Eine Karrierefrau in schicken Kostümen und auf hohen Stöckelschuhen. Das war keine Frau für ihn. Ganz bestimmt nicht. Und dennoch hatte er sie im Stich gelassen für die magersüchtige Ärztin. Für die Vegetarierin. Als wenn … garantiert hatte SIE das nur, um nicht ihren Schweinebraten essen und ihre Kochkünste loben zu müssen. Damit Elenor gar nicht erst die Möglichkeit hatte, zu zeigen, was sie gut konnte. SIE hatte einfach etwas gegen sie gehabt. Von Anfang an. Hielt sich selbst für etwas Besseres. Aber das war SIE nicht. Niemals. Und ganz bestimmt nicht gut genug für ihren Sohn.

 

Elenor nahm den Briefumschlag in die Hand und nestelte umständlich zwei Fotos heraus. Da war SIE und daneben ihr Sohn. Der glückliche Gesichtsausdruck mit dem er SIE anschaute und seine Hand auf ihren runden Bauch legte, rann wie warmer Honig durch ihren Körper. Zugleich schmerzte er. Einen Sohn hatten sie bekommen, das hatte er geschrieben. So wie Elenor damals auch einen Sohn bekommen hatte. Ob es IHR mit ihrer Schwiegertochter später auch einmal so gehen würde? Ob IHR Sohn sich auch einmal gegen sie entscheiden würde? Elenor studierte das Gesicht auf dem Foto, um zu sehen, ob sich darin schon der Schatten späterer Sorgen und Enttäuschungen abzeichnete. Doch davon war nichts zu sehen. Müde sah es aus, das Gesicht. Müde, aber glücklich. Und … liebevoll. Ja, SIE sah ihren Sohn mit einem Ausdruck voller Liebe an. Das konnte man so sagen. Genauso sah es aus. Die Luft reichte plötzlich nicht mehr, um ihre Lungen satt zu machen. Erschöpft und flach atmend schloss sie die Augen und ließ den Kopf für einige Momente nach vorne sinken.

 

Als sich Elenors Atmung wieder beruhigt hatte, öffnete sie die Augen und nahm das zweite Foto, auf dem ein kleiner Junge zu sehen war. Ihr Enkelsohn. Der Sohn ihres Sohnes. Er war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten und eine bittersüße Sehnsucht nach diesem Kind, nach der verlorenen Zeit, nach dem, was sich nicht mehr ändern ließ, ergriff sie drängend. Langsam drehte sie das Foto und las die Zeilen, die mit einer weichen, runden, kleinen Schrift auf die Rückseite geschrieben waren:

 

Elenor, ich bitte dich, lass uns einen neuen Anfang machen und gemeinsam für unseren Sohn und deinen Enkelsohn da sein. Wir vermissen dich in unserer Familie!

 

Leise, ganz leise schluchzte Elenor auf und kam sich wie eine Närrin vor. Sie drehte das Foto erneut und betrachtete lange und eingehend das unschuldige, runde Kindergesicht. Vorsichtig strich sich mit ihren zitternden Fingern über das Bild. Ja, sie wollte einen neuen Anfang machen. Alleine dieser Gedanke des Wollens schenkte ihr ein Gefühl von Leichtigkeit, das sie zuletzt in einem lange zurückliegenden Leben gespürt hatte. Die Zeit seitdem war kein Leben gewesen, sondern ein Warten, ein Stillehalten und Wüten. Fast aufgeregt griff sie nach dem Brief und las ihn noch einmal. Und dann noch einmal und noch einmal. Mit jedem Mal mehr schwand die Schwärze und Schwere in ihrer Brust ein wenig mehr und am Ende las sie den letzten Satz laut mit:

 

„Mama, wir kommen mit unserem kleinen Jonathan zu dir und dann wollen wir alles Schlechte hinter uns lassen und wieder eine richtige Familie werden, ja?“


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