Die Täter-Opfer-Sache Teil 1: Vergeben und vergessen aus Opfersicht

 

Es beginnt schon im Sandkasten: Die Schaufel wird geklaut, die Sandburg zertreten, jemand schubst einen oder ist sonst irgendwie gemein. Und diese Täter-Opfer-Nummer gibt es potenziell jederzeit und überall: zwischen Eltern und Kindern, in der Schule oder im Büro. Täter- und Opfer-Rollen sind also allgegenwärtig. Der eine tut dem anderen irgendetwas an, klaut ihm eine Schaufel oder macht etwas wirklich Schlimmes, von Mobbing über Misshandlung bis hin zu Mord. Was fängt das Opfer jetzt mit seinem Schmerz und seiner Wut darüber an? Schiebt es beides beiseite? Rächt es sich? Fordert es Wiedergutmachung oder vergibt es dem Täter? Am besten für die eigene geistige wie körperliche Gesundheit soll ja das mit der Vergebung sein. Allerdings muss man das erstmal hinbekommen, denn Vergebung hat eindeutig (!) etwas jesus-guru-artiges an sich. Und wer ist schon Jesus?

 

Wortopolis Kolumne by Britta Stender
Wortopolis KOLUMNE | Vergeben und vergessen | Bildquelle: pixabay.com, Counselling



Entschuldigen, verzeihen, versöhnen – das Wortopolis der Vergebung

Sich entschuldigen, um Vergebung bitten
Täter - Keine schöne Rolle, Bildquelle: pixabay.com, 422737

 

 

„Ent-Schuldige bitte!“

„Bitte was?“

„Sag‘ ich doch: mach‘ die Schuld da weg. Die ist mir unangenehm.“

„Und wie soll das funktionieren?“

„Na, du ent-schuldigst mich einfach und dann ist das Thema aus der Welt.“

 

Als wäre es so einfach! Überhaupt stellt sich doch die Frage, warum das Opfer dafür sorgen sollte, dass sich der Täter mit seiner Schuld nicht allzu unwohl fühlt? Doch erstaunlicherweise sagt das Vergebungs-Wortopolis genau das. Als würde es bei diesem ganzen Verzeihen alleine um den Täter und seine Schuldgefühle gehen:

 

Ent-Schuldige mich.

Es tut mir (ein) Leid.

Bezichtige (zeihe) mich nicht weiter der Schuld, sondern ver-zeihe mir.

 

Armer Täter, der.

 

Besonders deutlich macht es das Wort „ver-geben“. Warum soll man seinem Peiniger denn bitte etwas geben?! Fällt einem vielleicht genau deswegen Vergebung manchmal so schwer? Weil man den Eindruck hat, dass man dem Täter damit etwas Gutes tut? Und im Normalfall will man dem 'Feind' ja nun nicht noch etwas schenken oder geben (außer einem Tritt in den Hintern vielleicht…).

Die gute Nachricht: Man muss niemandem verzeihen und vieles ist sogar absolut unverzeihlich. Aber selbst ohne zu Verzeihen kann man loslassen. Und das hilft.

 

Ich kann nicht vergeben, denn ich will nicht vergeben!

Ich kann nicht vergeben, denn ich will nicht vergeben
Ich kann nicht vergeben | Bildquelle: pixabay.com, sweetlouise

Um vergeben zu können, muss man zuallererstmal vergeben wollen. Genau da liegt jedoch der Hase im Pfeffer. Denn häufig fühlt man sich seiner Wut geradezu verpflichtet und ein Aufgeben derselben fühlt sich an wie ein Selbstverrat. Die Wut schützt auch vor der Traurigkeit, die dahinter steckt und vor der Auseinandersetzung mit der Verletzung. Und Wut wertet. Sie sagt: Das, was derjenige gemacht hat, ist falsch. Sie setzt einen selbst ins Recht. Und das ist umso wichtiger, je weniger dein Leid anerkannt wird. Je weniger der Täter bereut und je weniger dein Umfeld die Tat verurteilt.

 

Aber ... solange du Opfer bleibst und in der Wut, im Selbstmitleid, im Schmerz verharrst, hinderst du dich selbst daran, wirklich zu heilen und weiterzukommen. Stattdessen wird die Verletzung konserviert und bleibt.

 

An Zorn festhalten ist wie Gift trinken und erwarten,

dass der Andere dadurch stirbt. - Buddha

 

Wichtig ist an dieser Stelle, zu begreifen, dass vergeben und loslassen zwei unterschiedliche Dinge sind. Sie können miteinander in direktem Zusammenhang stehen, müssen sie aber nicht. Mir geht es an dieser Stelle explizit nicht darum, dem Täter etwas zu geben, ihn von der Schuld und der Verantwortung zu befreien. Nein, das Opfer soll befreit werden. Von seiner Wut, seinem Schmerz, seiner Verbitterung. Die Verletzung soll bitte endlich ein Ende finden und in die Vergangenheit verbannt werden.

Wie auch wir vergeben unseren Schudigern???

In den Weltreligionen ist Vergebung ein großes Thema, zum Beispiel bei den Christen. Dort ist "Vergebung" sogar Teil des berühmtesten Gebets, des Vaterunsers.

 

„Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

 

Die Message ist eindeutig: Man SOLL vergeben. Ja, Vergebung wirkt in diesem Gebet wie eine Art Erlösungsdeal. Wir vergeben im Diesseits und erhalten dafür Vergebung im Jenseits, verbunden mit dem Einzug ins Himmelreich. Man könnte die Botschaft auch so formulieren: Vergebung befreit, der Vergebende wird belohnt und es liegt an einem selbst, mit der Vergebung anzufangen.

 

Ja, klar. Natürlich stimmt es, dass man sich mit einer wirklich empfundenen Vergebung in Nullkommanichts in einen von allem Schmerz und Leid entrückten Jesus-Guru-Modus katapultiert. Gut für die, die es können. Und wichtig auch für alle ernsthaft bereuenden Täter auf dem Weg zur Selbstvergebung.

Aber ... der Knackpunkt ist: Du musst nicht vergeben können. Nein, musst du nicht! Du musst denjenigen, der dir etwas angetan hat, nicht von seiner Schuld freisprechen.

Dafür sollte der Täter aber etwas tun und zwar als erster. Nämlich die Verantwortung übernehmen und seine Tat bereuen. Denn das hilft wirklich. Ernsthafte (!) Reue-Bekundungen sind wie Balsam. "Es ist so furchtbar, was ich dir angetan habe." So eine Anerkennung der 'Tat' erleichtert das Loslassen, das Hinter-sich-Lassen ungemein.

 

Wichtig: Selbst wenn der Täter bereut, musst du ihm nicht vergeben. Wie gesagt, es gibt Taten, die sind einfach unverzeihlich.

 

Vergebung: Warum man die Wut loslassen darf

Vergebung: Die Wut loslassen
Finde deinen Frieden | Bildquelle: pixabay.com, 4144132

 

Um den Entschluss zum Loslassen zu fassen, ist ein erster Schritt, zu verstehen, dass dadurch die Verletzung weder gebilligt, noch verharmlost, vergessen oder entschuldigt wird. Dadurch, dass man sich entscheidet, nach vorne zu schauen und loszulassen, spricht man dem erlittenen Leid keine Bedeutung ab.

Wer meint, dass man sich selbst nicht genug Wert beimesse, wenn man die Tat hinter sich lässt, sollte sich zunächst vergegenwärtigen, dass das Verharren in der Verletzung vor allem Folgen für einen selbst hast.

Nachgewiesen ist jedenfalls, dass die Erstarrung im Wut-Trauer-Schmerz-Rache-Gefühl negative Folgen für die geistige und körperliche Gesundheit haben kann. Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, permanente Unzufriedenheit, Aggressionen, ja, es gibt sogar etwas, das als „Verbitterungsstörung“ bezeichnet wird. Und darauf kann man ja nun wirklich verzichten, schließlich kann man sich deswegen noch nicht einmal krankschreiben lassen. Passend dazu lautet eine buddhistische Weisheit: „Sei gut zu dir und vergib den anderen.“

 

Ausgehend vom Fokus auf das Loslassen: Wie funktioniert das mit der Vergebung? Ich habe mal recherchiert …  Es gibt zahlreihe psychologische Studien zu dem Thema, der Buchmarkt bietet reichlich Selbsthilfelektüre und natürlich findet man auch online unzählige Ratgeberseiten. Es gibt sogar ein WikiHow zum Vergeben lernen.

 

Kurz gefasst, gilt Vergebung in der Psychologie als ein Prozess, der in verschiedenen Stufen abläuft. Verschiedene Psychologen haben hierzu unterschiedliche Modelle entworfen, die sich im Wesentlichen auf die folgenden Punkte reduzieren lassen:

  • Stufe 1: Sich mit der der zu vergebenden Tat auseinandersetzen, seine Wut und die dahinter verborgenen Gefühle erkennen, Verantwortlichkeiten sortieren.
  • Stufe 2: Den Entschluss fassen zu vergeben. Das fängt im Kopf an. Vor dem emotionsbasierten Verzeihen kommt das entscheidungsbasierte Vergeben. Um sich dazu durchzuringen, findest du weiter unten einige Tipps.
  • Stufe 3: Am Vergebungsprozess arbeiten, zum Beispiel indem man seine Wut herauslässt, sich mit der Sichtweise des Täters befasst, die eigenen Gefühle neu programmiert. Meist bringen einen schon die Fragen weiter: Warum macht mich das so wütend, was der andere getan hat? Was genau finde ich daran so schlimm und wieso? In dieser Phase sind Gespräche mit Unbeteiligten (z.B. mit Freunden oder einem Therapeuten) sehr hilfreich. Auch Gespräche mit dem Täter können helfen, vor allem wenn dieser seine Tat bereut. Wenn nicht, lass' ihn lieber außen vor ...
  • Stufe 4: Vergeben, den Schuldvorwurf hinter sich lassen, abschließen, loslassen.

 

Wie schaffe ich es zu vergeben? Tipps für den Jesus-Guru-Modus

Tipps um vergeben zu können
Tipps um vergeben zu können | Bildquelle: pixabay.com, Engin_Akyurt

Okay, wir befassen uns zumindest schonmal gedanklich mit dem Vergebungsthema und haben verstanden, dass der anhaltende Groll  uns selbst schadet. Dennoch kann uns niemand dazu zwingen zu vergeben und das Nicht-Verzeihen führt auch nicht zwangsläufig zu Verbitterung, Krankheit, Tod und Hölle. Aber wenn wir gewillt sind zu verzeihen und die Wut und der Schmerz einfach nicht verschwinden wollen, was können wir dann tun? Hier meine Lieblingstipps:

  • „Was kümmert es die Eiche, wenn die Sau sich dran scheuert“ – so heißt es volkstümlich. Und Distanz zu den Dingen hilft tatsächlich ungemein dabei, die Dinge hinter sich zu lassen. Sei groß und stehe darüber. Manchmal hilft es auch den Täter abzuwerten (das ist jetzt alles andere als ein reifer Tipp und eigentlich typisch für faschistoide Vollidioten, aber das wohl auch nur, weil es wirklich super wirkt). Mein absolutes Highlight hierzu ist der wikiHow-Beitrag zum Umgang mit dummen Leuten
  • Führe fiktive Gespräche mit dem Täter und sprich' alles aus, was du empfindest. Schrei' es heraus, singe es oder schreibe es auf. Das ist der erste Schritt, um es loszuwerden.
  • Erforsche die Ursachen für deine Verletzung. Was verbindest du mit der Tat? Je klarer du die ganze Angelegenheit vor dir siehst und je mehr du alles in seine Einzelheiten zerlegst, umso besser kannst auf Distanz gehen.
  • Habe Mitleid mit dem Täter. Nichts anderes katapultiert dich dermaßen schnell in die stoische Eichenposition, in der du huldvoll Gnade walten lassen kannst. Ich selber war mal sehr erfolgreich mit dem mantra-artig wiederholten Satz: "Friede sei mit dir". Im wikiHow-Beitrag zum Umgang mit dummen Leuten wird empfohlen, sich innerlich vorzusingen: "Das ist nur ein dummer Mensch, das ist nur ein dummer Mensch, usw." (auch gut)
  • Mache dir bewusst, dass du nur verletzt werden kannst, wenn du es zulässt. Wenn du die Opfer-Rolle nicht einnimmst, funktioniert die Täter-Opfer-Sache nämlich gar nicht mehr.
  • Verzeihe dir selbst, denn damit fängt alles an.

Hast du noch einen anderen Tipp, mit dem du eine Verletzung erfolgreich hinter dir lassen konntest? Dann freue ich mich auf deinen Kommentar!



Falls ein Link mal nicht mehr funktionieren sollte, freue ich mich über eine kurze Info per Mail!

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Bärbel (Montag, 08 Februar 2021 09:10)

    Hallo, interessanter Ansatz. Ich finde ja auch, dass es immer viel zu sehr um die Täter geht und um Bestrafung. Über die Opfer wird kaum gesprochen. Das hat sich mit der #metoo Bewegung ja wenigstens mal ein wenig geändert. Ich finde auch, dass man gar nicht vergeben muss. Dazu gibt es viel zu viele Dinge, die meiner Meinung nach nicht entschuldbar sind. Aber Verletzungen hinter sich lassen, sollte man können und nach vorne schauen. Mir haben dabei mal Vorstellungsübungen geholfen, bei denen ich mich gedanklich in die Situation zurückversetzt habe und mein gegenwärtiges Ich dann mein vergangenes Ich unterstützt hat. Vielleicht hilft das ja auch anderen. VG