EINSAM 3: Jan@einsam

Wortopolis Kurzgeschichte by Britta Stender
© Britta Stender / Wortopolis Kurzgeschichten

An der Kasse saß wieder diese schreckliche Frau. Mit einer Figur wie ein Hefekloß thronte sie auf ihrem Stuhl und schob die Waren langsam über das Kassenband. Ihre Haut war grobporig und glänzte fettig rot. Um das Gesicht hing strähniges, matschbraunes Haar. Einzelne Strähnen waren in schrillem Pink gefärbt.

In Jans Körper machte sich ein dumpfes Gefühl breit, zusammengebraut aus Widerwillen, Abscheu und Angst. Jan konnte nicht anders. Er starrte sie an.

"Wird's bald", schnarrte da auf einmal ihre seltsam scheppernde Stimme quer über das Kassenband. Er zuckte zusammen und bemerkte erschrocken, dass sie ihn meinte. Das Kassenband war leer und er hatte noch nicht einmal damit angefangen, seine Einkäufe darauf zu legen.

Hektisch begann Jan seine Sachen aus dem Einkausfwagen zu räumen. Währenddessen kam eine Kollegin der Kassiererin vorbei, legte ihren Arm vertraulich über deren wulstige Schulter und flüsterte ihr kichernd etwas ins Ohr. Die Kassierein lachte auf ein Geräusch, bei dem sich Jans Gesicht unwillkürlich verzog als hätte er starke Schmerzen.

 

Endlich waren alle Artikel ordnungsgemäß auf das Kassenband gepackt und die Kassiererin zog einen Artikel nach dem anderen über den Scanner. Jan starrte auf ihre fleischigen Finger, wie sie jede einzelne der Verpackungen betasteten, drehten, wendeten und dabei jeweils gleich mehrere Fingerabdrücke auf seinem Essen hinterließen. Ekel packte ihn, tief empfundener, unkontollierbarer Ekel. Jan merkte ein Brennen in seiner Speiseröhre aufsteigen. Sein Herz schlug schnell und heftig und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er musste hier dringend raus, sonst würde er sich in aller Öffentlichkeit übergeben. Dieser Gedanke erschreckte ihn noch mehr, als ihn die Fingerabdrücke des Hefekloßes anwiderten. Panisch raffte er die Einkäufe zusammen, bezahlte und schob den Wagen im Eiltempo aus dem Geschäft. Die Kassierein sah ihm mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Augenbrauen nach, zuckte dann mit den Schultern und nahm die nächste Verpackung in die Hand.

 

Auf dem Parkplatz atmete Jan tief durch, während er auf seine Einkäufe starrte. Er bekam das Bild von diesen Fingern darauf einfach nicht aus seinem Kopf. Es war, als hätte die Spurensicherung ihr Pulver über seinem Einkaufswagen ausgeleert und jeder einzelne Fingerabdruck wäre nun überdeutlich sichtbar. Alles war übersät davon. Sein Hals war wie zugeschnürt. Ob er noch irgendetwas davon essen konnte? Vielleicht sollte er den Einkaufswagen einfach so wie er war hier stehenlassen und wegfahren. Nein, das ging nicht. Sein Kühlschrank war genauso leer wie sein Portemonnaie.

Plötzlich merkte er, dass ihm bitterkalt war und er realisierte, dass er schon seit einer geraumen Weile reglos auf seine Einkäufe blickte. Als ihm auffiel, dass ihn andere Leute auf dem Parkplatz neugierig beobachteten, half ihm die aufsteigende Welle von Scham dabei, die Einkäufe in Beutel zu packen und in den Kofferraum zu stellen. Das war gut. Jetzt waren die Fingerabdrücke schon etwas verwischt und abgerieben. Vielleicht konnte er doch noch etwas davon essen. Seine Therapeutin würde ihm jetzt sagen, er solle versuchen, gar nicht darüber nachzudenken, sondern es einfach essen. Dann würde er ja sehen, dass nichts Schlimmes passieren würde.Leichter gesagt als getan, dachte Jan.

 

Zuhause überwand er sich noch einmal und räumte alle Einkäufe ordentlich weg. Als kleines Zugeständnis an sich und seinen Ekel, spülte er aber alles aus der Gemüse-und Obstabteilung heiß ab. Verpackungen, auf denen sich theoretisch noch Fingerabdrücke der Kassiererin befinden konnten, beförderte er direkt in den Müll. Danach wusch er sich lange und gründlich die Hände. Anschließend ging er in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Computer. Er arbeitete von zu Hause aus als Webdesigner. Das kam seiner Sozialphobie sehr entgegen. Zwischen sich und der Welt stand so immer der Computer, der ihn teilhaben und beobachten ließ, ohne ihn in die allgemeine Aufmerksamkeit zu zwingen. Der Computer machte das Anonyme intim und das Intime anonym. Das fand er beruhigend. Früher hatte er sich auch die Einkäufe über den Computer bestellt, um seine Wohnung nicht verlassen zu müssen. Aber jetzt gehörte das Einkaufen im Supermarkt zu den Hausaufgaben, die ihm seine Therapeutin aufgab. Sie fand auch, er sollte sich in einer Firma bewerben, um täglich in Kontakt mit Menschen zu kommen. Aber zu diesem Schritt konnte er sich einfach nicht durchringen. So weit war er noch nicht. Menschen machten ihm Angst. Persönlicher Kontakt schüchterte ihn ein.

Er war klein und schmal, nicht besonders gut aussehend und schnell verlegen. Sich da draußen Gehör zu verschaffen, stresste ihn über alle Maßen. Vom Computer aus fiel ihm alles leichter. Auch die Liebe. Im echten Leben war Jan schon seit Jahren alleine. Seine letzte Freundin hatte ihn verlassen, eine Woche nach seinem neunzehnten Geburtstag. Monika. Die war jetzt mit einem großen sportlichen Schönling verheiratet. Sie hatte sogar schon ein Kind von ihm. Jan kniff die Lippen fest zusammen. Dafür habe ich zwei Freundinnen auf einmal, dachte er und straffte unwillkürlich seine Haltung. Natürlich würde er keine von beiden jemals in Wirklichkeit treffen, ebenso wenig wie er seiner Therapeutin von ihnen erzählen würde. Schließlich dachten seine Freundinnen, er wäre der sportliche, gut aussehende Mann seiner Ex-Freundin. Und was seine Therapeutin dazu sagen würde, konnte er sich auch so denken. Für seine Freundschaftsanfragen über Facebook hatte sich Jan einfach die Identität von Monikas Mann ausgeliehen. Was klaute der ihm auch sein Mädchen. Außerdem war eben alles viel einfacher, wenn man so aussah wie der.

Jan musste an die Kassiererin denken. Wie die andere Frau ihren Arm um sie gelegt hatte und ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte. Waren die etwa befreundet? Der Hefekloß hatte eine Freundin? Dabei sah sie doch nun wirklich überhaupt nicht sympathisch aus, von hübsch ganz zu schweigen. Also er würde mit ihr bestimmt nicht befreundet sein wollen. Trotzdem. Jan überlegte, wann ihn das letzte Mal jemand angefasst hatte. Es fiel ihm nicht ein. Jan starrte eine Weile vor sich hin. In seinem Inneren machte sich ein schwerer schwarzer Klumpen breit, den er nach einigem Nachdenken als Gefühl der Einsamkeit identifizierte. Er setzte sich an die Arbeit, um sich abzulenken. Doch er konnte sich nicht konzentrieren. Jan nahm sein Smartphone in die Hand und schrieb Andrea eine Nachricht über What's App. Andrea kannte er schon seit einem halben Jahr. Sie schrieben sich täglich, schickten sich Fotos, verrieten sich Geheimnisse. Seine Fotos suchte er im Internet zusammen. Und seine Geheimnisse hatte er sich ausgedacht. Natürlich. Was wäre an seiner Phobie vor Menschen, Berührungen und Fingerabdrücken schon anziehend?! Aber es schmeichelte ihm sehr, dass sie ihm so vieles anvertraute.

Andrea dachte, er wäre Soldat und würde ständig versetzt, wäre auf Übung oder im Einsatz. Das war eine gute Ausrede dafür, dass sie sich bisher noch nicht sehen konnten. Irgendetwas fiel ihm immer ein. Und Andrea schien zum Glück nichts davon nachzuprüfen. Praktischerweise war der Mann von Monika einige Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet gewesen und hatte aus der Zeit Fotos online gestellt. Da hatte Jan sich einfach bedient und fertig war die Geschichte vom tapferen Kämpfer, der sich in seinen Nächten im kalten Biwak mit dem Gedanken an seine Liebste wärmte. Jan fand sich selbst ganz schön attraktiv auf seinem Facebook-Profil. Ja, so musste ein Mann sein. So musste ER sein. So wollte er sein.

Susanne, seiner zweiten Freundin, erzählte er genau die gleichen Geschichten. Damit er nicht durcheinanderkam. Bei ihr war er sich jedoch nicht sicher, wie lange er sie bei der Stange halten konnte. Sie drängte immer mehr auf ein Treffen und schien zunehmend skeptisch zu werden. Zum Glück hatte er Andrea. Sie liebte ihn, das wusste er. Sie sagte es ihm oft genug. Da, Andrea schrieb zurück. Er las: "Hallo Schatz, vermiss' dich. Würde dich so gerne berühren und meine Lippen auf deine drücken. Sag‘ mir, wann ich dich endlich sehen kann. Halt‘ es nicht mehr aus. Fahre überall hin!!!" Jan wartete auf das warme Gefühl der Bestätigung, das ihre Nachrichten sonst in ihm auslösten. Doch stattdessen fühlte er Übelkeit in sich aufsteigen. Und in seinem Kopf war nur das Bild von matschbraunen Haaren mit pinken Strähnen, von fetten Schultern, um die sich ein Arm schlingt und einem fröhlich kichernden Mund, der sich fast liebkosend an ein fleischiges Ohr drängt. Mechanisch antwortete er, dass sie ihm genauso fehle und er es kaum erwarten könne, sie in seine Arme zu nehmen. Er würde gleich mal seinen Dienstplan checken. Danach sank seine Hand mit dem Smartphone langsam auf seinen Schoß. Seine Schultern und Mundwinkel hingen schlaff herunter, seine Augen fixierten mit einem gläsernen Blick sein gefälschtes Facebook-Profil auf dem Bildschirm. Nach einigen Minuten flüsterte Jan dann ganz leise, fast unhörbar: "Scheiße".


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